Wir brauchen sofort eine Luftbrücke für ukrainische Flüchtlinge – wie Putins zynischer Plan scheitern wird
- 10 Millionen Flüchtlinge
- Die größte Herausforderung ist nicht die Logistik, sondern die Politik
- Ukrainische Flüchtlinge und Putins Angriffsplan
Liebe Freunde,
vier Wochen nach Beginn des russischen Angriffs sind bereits mehr als 3,5 Millionen Menschen aus der Ukraine geflohen. Wenn es so weitergeht, werden bis Ende März insgesamt 5 Millionen Ukrainer in die EU gekommen sein. Binnen weniger weiterer Wochen könnten es bereits 10 Millionen Flüchtlinge sein.
Die Zahlen zu kennen ist eine Sache. Ihre Bedeutung zu erfassen, ist etwas ganz anderes. Einigen in Europa fällt es immer noch schwer zu verstehen was es bedeutet, die größte Flüchtlingskatastrophe in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu erleben. Den europäischen Staats- und Regierungschefs bleibt jedoch nicht viel Zeit, um sich auf diese neue Realität einzustellen. Sie müssen sofort so handeln und denken, wie es dem Ausmaß dieser humanitären Herausforderung angemessen ist.
Während der ebenfalls historischen Flüchtlingsbewegung im Jahr 2015 überquerten innerhalb von 12 Monaten eine Million Menschen aus der Türkei kommend die Ägäis. Seit dem Beginn von Wladimir Putins Angriff auf die Ukraine am 24. Februar sind täglich mehr als 100.000 Menschen – hauptsächlich Frauen und Kinder – aus der Ukraine in die Europäische Union und nach Moldawien geflohen. Das sind eine Million Menschen pro Woche.
UNHCR: Gesamtzustrom von Flüchtlingen aus der Ukraine in die Nachbarländer
Die praktische Frage lautet: Wie kann der Rest Europas darauf reagieren?
Von Polen, Moldawien und Ungarn können wir nicht erwarten, dass sie alle diese Menschen aufnehmen. In Warschau (1,8 Millionen Einwohner vor der Krise) sind halten sich bereits 300.000 Flüchtlinge auf, davon 90.000 Kinder im schulpflichtigen Alter. Allein in Polen gibt es ca. 2,1 Millionen Flüchtlinge. Das ärmste Land Europas, Moldawien, beherbergt derzeit mehr als 100.000 Flüchtlinge, mehr als das reiche Österreich während der gesamten Krise 2015 aufgenommen hat.
10 Millionen Flüchtlinge
Interview im heute-journal am 5 März
Vor einigen Wochen haben wir vorausgesagt, dass 10 Millionen Ukrainer fliehen könnten. Das beruhte auf den Erfahrungen mit den Kriegen, die Wladimir Putin zuvor geführt hatte, wie etwa in Tschetschenien im Jahr 2000. Oder in Syrien, wo Putins Truppen Bashar al-Assad unterstützen, und ein Viertel der Bevölkerung wegen der massiven Brutalität und der mutwilligen Zerstörung ziviler Infrastruktur ins Ausland fliehen musste. Einen Monat nach Beginn des Krieges in der Ukraine wird deutlich, dass 10 Millionen Flüchtlinge leider eine allzu realistische Annahme sind.
Millionen von Menschen, vor allem Frauen und Kinder, werden also in den kommenden Wochen nach einer Unterkunft und Versorgung suchen. Wo und wie werden sie diese finden? Polen hat bereits mehr Menschen aufgenommen, als es versorgen kann. Das Gleiche gilt für andere Nachbarländer der Ukraine. Weder die mitteleuropäischen EU-Mitgliedstaaten noch Deutschland allein werden in der Lage sein, sie alle angemessen unterzubringen und zu versorgen, einschließlich der Schulbildung für die sehr große Zahl von Kindern. Es sei denn, es findet eine breitere Mobilisierung der europäischen und nordamerikanischen Demokratien statt.
Letzte Woche veröffentlichten wir einen Aufruf für eine Luftbrücke für Ukraine-Flüchtlinge.
An airlift 2022 for Ukrainians
Proposal for a Macron-Scholz Plan
Wenn in den nächsten zwei bis drei Wochen weitere zwei Millionen Menschen ankommen, wird wahrscheinlich eine Million mit dem Zug oder Auto Österreich und Deutschland erreichen Einer weiteren Million sollte jedoch angeboten werden, in Flugzeuge (oder Busse) zu steigen, um direkt in andere Länder Europas gebracht zu werden: nach Spanien, Portugal, Irland oder Schweden, aber auch in das Vereinigte Königreich, vielleicht sogar in die Vereinigten Staaten und Kanada.
Ist das realistisch? Wenn Spanien und Portugal sich gemeinsam bereit erklären würden, bis Ende März 160.000 Menschen aufzunehmen, und Frankreich und das Vereinigte Königreich dasselbe tun würden, dann wäre das durchaus machbar. Das würde bedeuten: 1.500 Flüge mit 300 Passagieren bis Ende März allein in diese vier Länder.
Boris Pistorius (SPD) und Joachim Stamp (FDP) sprechen sich für eine Luftbrücke aus
Joachim Stamp, Flüchtlings- und Integrationsminister in Nordrhein-Westfalen, dem bevölkerungsreichsten deutschen Bundesland, forderte Bundeskanzler Olaf Scholz kürzlich auf, mit Frankreich zusammenzuarbeiten, um die Evakuierung von einer Million Flüchtlingen aus Polen und Moldawien zu unterstützen. Sie sollten in ganz Westeuropa und möglicherweise in Nordamerika neu angesiedelt werden. Der niedersächsische Innenminister Boris Pistorius forderte den sofortigen Beginn einer solchen Mobilisierung.
In Schweden hat die Regierung den Ernst der Lage erkannt und spricht davon, bis zu 200.000 Menschen aufzunehmen. Die österreichische Regierung verweist auf ähnliche Zahlen. Deutschland bereitet sich auf die baldige Ankunft von einer Million Menschen vor.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass am Ende ein größerer Teil der Flüchtlinge in den Ländern in der Nähe der Ukraine bleiben wollen wird, von Polen bis Österreich, von Moldawien bis Ungarn. Damit aber kein Chaos ausbricht, damit nicht Hunderttausende von Müttern und Kindern im Stich gelassen werden, damit sie vor Ausbeutung geschützt werden und damit es einen schnellen Zugang zu Unterkünften und Schulbildung gibt, muss eine breitere Verteilung erfolgen.
Die Logistik einer solchen Luftbrücke für Flüchtlinge aus der Ukraine ist eine enorme, aber nicht unüberwindbare Herausforderung.
Dabei spielt es keine Rolle, ob die Flüchtlinge mit Lufthansa- oder easyJet-Flugzeugen transportiert werden. In jedem teilnehmenden Land wäre eine ähnliche zivilgesellschaftliche Mobilisierung erforderlich, wie sie bereits in Polen und Deutschland stattfindet, mit Appellen an Privatpersonen und Städte, Menschen aufzunehmen. Kurzfristig müsste eine vorübergehende Unterbringung in leerstehenden Hallen, Hotels und staatlichen Aufnahmezentren organisiert werden.
Damit das funktioniert, müssten die ukrainischen Flüchtlinge darauf vertrauen, dass es in ihrem Interesse ist, von Chisinau, Iasi, Prag, Warschau oder Leipzig nach Lissabon, Dublin, Madrid, Lyon oder Manchester zu fliegen. Die erforderliche Kommunikation und Logistik erfordern ein Maß an kollektiver Organisation, wie es sie in Europa seit Jahrzehnten nicht mehr gab. Es ist nicht vergleichbar mit irgendeiner Umsiedlung oder Neuansiedlung, mit der europäische oder internationale Institutionen bisher betraut waren.
Glücklicherweise ist die Rechtsgrundlage für eine solche humanitäre Aktion bereits vorhanden. Mit dem Inkrafttreten der EU-Richtlinie zum vorübergehenden Schutz haben alle Menschen, die in die EU fliehen, das Recht, überall in der EU aufgenommen zu werden. Die Schweiz und Dänemark haben ähnliche Rechtsvorschriften auf nationaler Ebene erlassen. Das macht alles viel einfacher und stellt eine Abkehr von der bisherigen Flüchtlingspolitik dar, bei der die nationalen Regierungen den Städten mitunter die Aufnahme von Flüchtlingen aus eigener Initiative verwehrt haben. Wenn alle Großstädte in der EU heute ankündigen würden, dass sie mehr als zwei Prozent ihrer Bevölkerung aufnehmen wollen, wenn jemand dies organisieren könnte, könnte diese Jahrhundertaufgabe sofort angegangen werden.
Harlem Désir, Senior Vize-Präsident Europa,
International Rescue Committee
Die größte Herausforderung ist nicht die Logistik, sondern die Politik
Die größte Hürde, damit so ein Programm funktioniert, ist weder rechtlich noch logistisch – obwohl die Logistik eine große Herausforderung sein wird – sondern politisch.
Welche Institution könnte innerhalb weniger Tage diesen historischen Kraftakt für eine erfolgreiche Flüchtlingsluftbrücke 2022 koordinieren? Wer wird mit dem spanischen Premierminister besprechen, wie man den Weg für 120.000 Flüchtlinge in den nächsten zwei Wochen ebnet, anstatt 20.000 Flüchtlinge in den nächsten Monaten? Wer wird mit der Regierung in London, wo die EU-Richtlinie über den vorübergehenden Schutz nicht gilt, darüber reden, wie sich die Städte und Bürger des Vereinigten Königreichs sofort an einer solchen Aktion beteiligen können?
Von zentraler Bedeutung für eine solche Anstrengung wäre es, in den vielen Sprachen Europas wirksam vermitteln zu können, warum eine solche Anstrengung notwendig ist und worum es letztlich geht. Es ist ein humanitärer Dienst an Millionen von Menschen, der Putins zynisches politisches Kalkül durchkreuzt. Es geht darum zu zeigen, dass Demokratien diese Zahl an Flüchtlinge bewältigen können, und dass Millionen, vor russischen Bomben fliehender Menschen, die europäischen Gesellschaften und ihre Institutionen nicht destabilisieren können.
Der französische Präsident Emmanuel Macron und der deutsche Kanzler Olaf Scholz
Deshalb ist sofort eine kleine, flexible politische Struktur erforderlich, die vorzugsweise im Namen der EU und der G7 handeln sollte. Am besten geleitet von einem Spitzenteam aus fähigen, gut vernetzten Kommunikatoren, beispielsweise ehemalige Regierungschefs oder hochrangige Minister. Frankreichs Emmanuel Macron und Bundeskanzler Olaf Scholz, die glücklicherweise derzeit den Vorsitz der EU bzw. der G7 innehaben, könnten dieses Team sofort ernennen. Gesucht wird eine Mischung aus Lucius Clay, dem amerikanischen General der Berliner Luftbrücke, und Ernst Reuter, dem damaligen charismatischen West-Berliner Bürgermeister. Beide waren Protagonisten der ersten großen politischen und humanitären Bewährungsprobe im letzten Kalten Krieg.
Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock fordert die Partner in der EU und G7 zur Einrichtung einer Luftbrücke für ukrainische Flüchtlinge auf
Ein solches Koordinierungsteam benötigt keine formale Autorität, da es nicht mit bestehenden Institutionen – von der Europäischen Kommission bis zu internationalen Organisationen – konkurrieren, sondern mit ihnen zusammenarbeiten sollte. Das ist durch Überzeugungsarbeit und Konzentration auf die gemeinsame Aufgabe möglich. Für den Erfolg wären drei Dinge nötig:
- Eine öffentliche Liste, in der alle Bereitschaftserklärungen durch Städte, Länder und Regionen zur Aufnahme von Flüchtlingen täglich aktualisiert werden. Das wäre eine Bilanz der Solidarität, in der Tradition von Jean Monnet, dem Vater der europäischen Integration, und inspiriert von seinen Bemühungen, die Logistik der Alliierten während des Ersten Weltkriegs und den Wiederaufbau Frankreichs nach dem Zweiten Weltkrieg zu koordinieren.
- Direkter Zugang zu Regierungen und öffentlichen und privaten Verkehrsunternehmen, um alle Bemühungen zu koordinieren, damit etwaige Lücken geschlossen werden.
- Ein Team von Filmemachern und Kommunikationsexperten, die diese Mobilisierung in ganz Europa in Echtzeit dokumentieren, teilen und damit verstärken. Die wichtigste Zutat für einen dauerhaften Erfolg ist die Empathie von Millionen von Menschen. Empathie lebt von Aufmerksamkeit und von fesselnden, emotionalen Geschichten, die auf eine Weise erzählt werden, die ermutigt und inspiriert.
All das wurde 1948 erreicht, als die eingeschlossenen Westberliner durch mehr als 170.000 Flüge alliierter Piloten versorgt wurden. Die Berliner Luftbrücke war eine starke politische Reaktion, die die europäische Politik bis heute verändert hat. Bald darauf entstanden die Institutionen des heutigen Westens: Die NATO, der Europarat, die ersten Schritte zur europäischen Integration. Stalins Erpressung scheiterte.
Transportflugzeuge der U.S. Air Force während der Berliner Luftbrücke im Jahr 1948
Ukrainische Flüchtlinge und Putins Angriffsplan
Heute muss Putins zynisches Ziel, die Ukraine und die EU durch einen brutalen Krieg, der wie in Syrien und Tschetschenien zu Massenvertreibungen führt, zu erpressen, für alle Welt sichtbar scheitern. Die verzweifelten ukrainischen Flüchtlinge sind Teil von Putins Angriffsplan. Sein Kalkül ist ebenso rücksichtslos wie durchschaubar: Durch die Vertreibung von Zivilisten hofft er nicht nur, die Ukrainer zu demoralisieren und sie zur Kapitulation zu zwingen, sondern auch die EU dazu zu bringen, sich gegen die Ukraine zu wenden und sie zu verraten. Das darf nicht geschehen.
Eine Luftbrücke 2022, eine Macron-Scholz-EU-G7-Initiative zur Umsetzung der großzügigsten Flüchtlingsaufnahmepolitik weltweit seit Jahrzehnten, wäre eine angemessene Antwort. Es geht darum, Menschen zu helfen und gleichzeitig die Autorität und Glaubwürdigkeit des Westens als Wertegemeinschaft zu stärken. Es wäre eine humane Antwort auf inhumanen Zynismus.
Mit freundlichen Grüßen,
Gerald Knaus
ESI-Vorschläge – empfohlene Lektüre und Videos
Nürnberger Nachrichten, Migrations-Experte: Luftbrücke für Geflüchtete als Signal gegen Putins zynisches Kalkül, 21. März 2022
The Washington Post, Europe rewrote its migrant playbook for Ukrainian refugees. Some fear it’s not enough, 19. März 2022
ZDF, ”Das ist erst der Anfang“, TV-Interview mit Gerald Knaus, 17. März 2022
Knack, Migratie-expert Gerald Knaus: ‘Leg een luchtbrug in voor Oekraïense vluchtelingen’ ("Migrationsexperte Gerald Knaus: ‚Eine Luftbrücke für ukrainische Flüchtlinge einrichten‘"), 17. März 2022
Deutsche Welle, TV interview with Gerald Knaus on Deutsche Welle on the Ukrainian refugee crisis and what to do, 17. März 2022
Der Tagesspiegel, Bis zu zehn Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine?: „Es müsste eine Luftbrücke geben – ähnlich wie 1948“, 15. März 2022
Swissinfo.ch, "No hay lugar para discursos vacíos" ("Die Zeit leerer Worte ist vorbei"), 12. März 2022
Телма ТВ, Топ Тема 07.03.2022, TV-Interview mit Gerald Knaus über Russlands Invasion der Ukraine und deren Bedeutung für den West-Balkan, 7. März 2022
aa.com, AB-Türkiye 18 Mart Mutabakatı’nın mimarı Gerald Knaus Ukrayna mülteci krizini değerlendirdi, ("Gerald Knaus, Architekt des EU-Türkei-Memorandums vom 18. März, bewertet die ukrainische Flüchtlingskrise“), 4. März 2022
ZDF, Markus Lanz, 17. März 2022
ZDF, Markus Lanz – Ein Abend für die Ukraine, 10. März 2022
ZDF, Markus Lanz, 1. März 2022
Debatte mit Innenministerin Nancy Faeser
ZDF, Markus Lanz, 25. Februar 2022