Noahs Taube kehrt zurück. Armenien, die Türkei und die Völkermorddebatte

21 April 2009
Mount Ararat. Photo: flickr/Hovik Melikyan
Mount Ararat. Photo: flickr/Hovik Melikyan

Unterstützt durch das Open Society Institute

Die Übersetzung dieses Berichts wurde mit Mitteln der
Europäischen Union finanziert

Überblick

Kein einzelnes Thema vergiftet die Beziehungen zwischen Türken und Armeniern mehr als die Vernichtung der armenischen Gemeinden Anatoliens im Jahr 1915 und die damit verbundene Frage, ob es sich dabei um Völkermord handelte. Für die Türkei ist der Kampf gegen die internationale Anerkennung als Völkermord ein zentrales außenpolitisches Ziel. Für die Armenier ist der Völkermord und der daraus resultierende Verlust einer traditionellen Heimstatt ein wesentliches Element ihrer nationalen Identität. Derzeit unterhalten die beiden Staaten keinerlei diplomatische Beziehungen, die gemeinsame Grenze bleibt geschlossen. In jüngster Zeit kam es zu ersten Anzeichen einer Wiederannäherung und versöhnlichen Gesten der politischen Führungen beider Seiten. Für eine Normalisierung ihrer Beziehungen werden beide Seiten jedoch einige tief verwurzelte Vorurteile überwinden müssen.

Im Rahmen des EU-Beitrittsprozesses haben sich in der Türkei in den vergangenen Jahren tiefgreifende Veränderungen vollzogen. Insbesondere wurde die Verfassung reformiert und der Einfluss des Nationalen Sicherheitsrates in der zivilen Politik reduziert. Die Demokratisierung ermöglichte in der Türkei erstmals eine offene Debatte über die armenische Frage. Die offizielle türkische Geschichtsschreibung hatte lange darauf bestanden, dass die rebellische armenische Bevölkerung sich im Ersten Weltkrieg mit Russland verbündet und als Hauptaggressor ihren eigenen Untergang herbeigeführt hatte. Wer diese offizielle Linie in Zweifel zog, wurde als Verräter gebrandmarkt und riskierte strafrechtliche Verfolgung. Doch seit dem Jahr 2000 hat die türkische Zivilgesellschaft begonnen, die Geschichte der osmanischen Armenier in einem anderen Licht zu betrachten. Seitdem kamen viele Tabus ins Wanken.

Gleichzeitig entwickelte sich die türkische Außenpolitik entscheidend weiter. Unter dem Motto "Keine Probleme mit den Nachbarn" nahm die derzeitige türkische Regierung eine Reihe ungelöster Streitigkeiten in Angriff und festigte so die türkische Position als strategische Größe auf regionaler und internationaler Bühne. Doch bislang befand sich Armenien im toten Winkel dieser Politik und die Türkei unternimmt auch weiterhin beträchtliche Anstrengungen, um eine internationale Anerkennung des armenischen Völkermordes zu verhindern.

Doch dies ist ein Kampf, den die Türkei nicht gewinnen kann. Mittlerweile wurden in mehr als 20 Ländern Resolutionen zum Gedenken an den Völkermord von 1915 verabschiedet; darunter viele enge Verbündete der Türkei. Der neue US-Präsident und die meisten führenden Mitglieder seiner Regierung haben den armenischen Völkermord öffentlich anerkannt, daher scheint es nur noch eine Frage der Zeit, bis die USA eine entsprechende Resolution verabschieden werden. Doch im Gegensatz zu den Befürchtungen vieler Türken ist dies kein Zeichen einer wachsenden anti-türkischen Stimmung oder des Einflusses der armenischen Diaspora. Mehr als alles andere spiegelt die zunehmende Anerkennung ein sich kontinuierlich entwickelndes Verständnis von Völkermord unter Wissenschaftlern und Juristen. Es ist heute Konsens, dass im 20. Jahrhundert weltweit unzählige Völkermorde, d.h. Versuche, eine bestimmte nationale oder ethnische Gruppe in Gänze oder in Teilen zu vernichten, verübt wurden. In der Genozidforschung gibt es kaum einen seriösen Wissenschaftler, der anzweifelt, dass die Ereignisse von 1915 einen Völkermord darstellen. Es ist jedoch ebenso klar, dass die heutige Türkei für vor beinahe einem Jahrhundert verübte Akte des Völkermords rechtlich nicht verantwortlich ist, und dass eine Anerkennung des Völkermordes die heutige türkisch-armenische Grenze nicht in Frage stellen würde.

Auch unter den Armeniern werden intensive Debatten geführt. Über Jahrzehnte waren anti-türkische Stimmungen und Träume von einem Großarmenien sowohl in Armenien selbst als auch in der Diaspora salonfähig. Doch seit den frühen 90er Jahren mussten Maximal-Forderungen  nach einer Rückgabe historischer Gebiete mit der pragmatischeren offiziellen Sicht konkurrieren, wonach verbesserte Beziehungen zur Türkei ein strategisches Gebot für den isolierten Binnenstaat sind. Mehrere Regierungen in Folge haben sich zu einer Normalisierung der Beziehungen zur Türkei ohne Vorbedingungen bekannt. Die Armenier stehen heute vor der Wahl, ob sie in der Türkei weiter den Erzfeind sehen wollen, oder ob sie in der Hoffnung, eines Tages eine gemeinsame Grenze zur Europäischen Union zu haben, wieder Beziehungen zu ihrem westlichen Nachbarn aufnehmen wollen.

Für beide Länder ist dies eine kritische Zeit. Auch wenn es nur ein erster Schritt zur Versöhnung wäre, würden die Extremisten auf beiden Seiten durch die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen und die Öffnung der Grenze marginalisiert, und so den Weg für eine vernünftigere und maßvollere Debatte freigeben. Die Türkei sollte ihre Politik der Unterbindung von Diskussionen über den armenischen Völkermord im In- und Ausland aufgeben – und es vermeiden, überzureagieren, wenn, was wahrscheinlich ist, mehr ihrer Verbündeten die Ereignisse von 1915 als Völkermord anerkennen. Die Armenier wiederum müssen akzeptieren, dass eine Anerkennung des Völkermordes niemals eine Änderung des seit annähernd einem Jahrhundert bestehenden territorialen Status quo bedeuten wird.

"Und im siebten Monat, am siebzehnten Tage des Monats, ruhte die Arche auf dem Gebirge Ararat. Und die Wasser nahmen fort und fort ab bis zum zehnten Monat und die Spitzen der Berge wurden sichtbar. Da öffnete Noah das Fenster der Arche und ließ den Raben aus; und der flog hin und wieder, bis die Wasser von der Erde vertrocknet waren. Und er ließ die Taube von sich aus, aber die Taube fand keinen Ruheplatz für ihren Fuß und kehrte zu ihm in die Arche zurück. Und er wartete noch sieben andere Tage und ließ die Taube abermals aus der Arche; und die Taube kam zu ihm und siehe, ein abgerissenes Olivenblatt war in ihrem Schnabel. Und Noah erkannte, daß die Wasser sich verlaufen hatten von der Erde."

I. Fußballdiplomatie

Am Samstag, dem 6. September 2008 um 16:45 Uhr landete ein Airbus 319 auf Jerewans Flughafen Swartnoz. Der türkische Präsident Abdullah Gül stieg aus dem Flugzeug und wurde auf dem Rollfeld von Armeniens Außenminister Edward Nalbandian begrüßt. Die rot-blau-orange armenische Flagge wehte neben dem türkischen Halbmond und Stern. Zwei Hubschrauber kreisten am Himmel. Ein gepanzerter Wagen, der von der Türkei über Georgien nach Armenien gebracht worden war, stand bereit. Gül war in Jerewan, um ein Qualifikationsspiel für die Weltmeisterschaft zwischen der türkischen und der armenischen Fußballmannschaft zu sehen. Es war der erste Besuch eines türkischen Präsidenten in Armenien überhaupt.

Der Entschluss, die Einladung des armenischen Präsidenten Sersch Sargsjan vom Juli 2008 anzunehmen, war in Ankara nicht überall wohl gelitten. Deniz Baykal, der Vorsitzende der Oppositionspartei CHP (Republikanische Volkspartei) kritisierte ihn scharf: "Hat Armenien die Grenzen der Türkei anerkannt? Ist es abgerückt von seinen Völkermordvorwürfen? Zieht es sich aus der Region Karabagh zurück, die es besetzt hält? Falls nicht, warum fährt er hin?" Der Vorsitzende der zweitgrößten Oppositionspartei MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung) Devlet Bahçeli beschuldigte Gül, auf Druck aus dem Ausland hin einzuknicken und bezeichnete den Besuch als "historischen Fehler", der "die Ehre der Türkei verletzen" würde.

Als Güls Eskorte in Jerewan eintraf, wurde sie von Demonstranten mit Schildern empfangen, auf denen in Englisch, Armenisch und Türkisch stand "Ich bin aus Van", "Akzeptieren Sie die Wahrheit", "Wir wollen Gerechtigkeit" und "Türkei, gestehe deine Schuld ein". Flaggen der Länder, die das Massaker von 1915 an den Armeniern in Anatolien als Völkermord anerkannt haben, waren am Straßenrand aufgestellt, darunter Frankreich, Kanada und Argentinien. Die Demonstrationen waren von der Armenischen Revolutionären Föderation (ARF, auch Daschnak-Partei) organisiert worden. Schon als sie 1890 noch im russischen Zarenreich gegründet wurde, warnte die Daschnak in ihrer ersten Bekanntmachung, dass "das türkische Armenien, das seit Jahrhunderten unterjocht ist, nun seine Freiheit fordert. … Der Armenier fleht nicht mehr, er fordert mit der Waffe in der Hand." 1918 bildete die ARF die Regierung der ersten Armenischen Republik. Als 1920 sowjetische Truppen in das unabhängige Armenien einmarschierten, flüchteten die Anführer der Daschnaken, um in der armenischen Diaspora von Beirut bis Los Angeles ein mächtiges Netzwerk zu bilden. Die ARF ist derzeit der kleinere Koalitionspartner in der armenischen Regierung.

Der Wagen des türkischen Präsidenten erreichte das Stadtzentrum über die Marshal Baghramian Avenue, benannt nach einem hochrangigen armenischen General der sowjetischen Armee im Zweiten Weltkrieg. Er fuhr über die Siegesbrücke, die 1945 zum Gedenken an den Krieg erbaut worden war, in dem 450.000 Armenier unter der Roten Armee gegen Nazideutschland gekämpft hatten. Obwohl Jerewan erst kürzlich seinen 2750. Geburtstag feierte, sind nur wenige seiner Gebäude aus der Zeit vor dem Kommunismus. Die Eskorte fuhr weiter entlang der Mesrop Mashtots Allee, benannt nach dem Mönch, der im 5. Jahrhundert das armenische Alphabet erfand, bevor sie das neu erbaute Golden Palace Hotel erreichte, in dem die türkische Nationalmannschaft residierte.

Wenn man vom obersten Stockwerk des Hotels nach Westen über die Ararat-Ebene schaut, kann man unschwer die Umrisse des Bergs Ararat auf der anderen Seite der türkisch-armenischen Grenze ausmachen. Die biblische Ruhestatt der Arche Noah ist für Armenier eine heilige Stätte. Der Ararat ist deshalb in Jerewan überall zu sehen: als Symbol auf Mineralwasserflaschen, in Logos von Firmen, Hotels und Einkaufsläden, und im armenischen Wappen. Wenige Tage vor der Ankunft der türkischen Mannschaft schmückte er noch die Trainingskleidung der armenischen Fußballmannschaft – bis der armenische Fußballverband entschied, den Berg Ararat im Logo durch einen Ball zu ersetzen. Die Entscheidung wurde scharf kritisiert, weshalb sich der Vorsitzende des Verbandes mit den Worten verteidigte: "Ich gebe zu, dass wir einen Fehler gemacht haben. Allerdings bin ich nicht für alle Sünden verantwortlich. Ich habe weder den Vertrag von Kars noch den Vertrag von Alexandropol unterzeichnet."

Nach einigen ermunternden Worten an die türkische Fußballmannschaft fuhr Abdullah Gül zum Präsidentenpalast, einem Gebäude aus der Sowjetzeit, das von zwei Marmorstatuen bewacht wird. Eine stellt Tigranes II. den Großen dar, den armenischen König (95-55 v. Chr.), dessen Reich sich vom Kaspischen Meer bis zum Mittelmeer erstreckte (und dessen Hauptstadt Tigranokerta in der heutigen Türkei lag). Die andere Statue stellt Erzvater Noah dar, dessen Ur-Urenkel Haik der Legende nach der Gründervater des armenischen Volkes ist. Nach einem Aufstand gegen die bösen Herrscher von Babylon soll Haik sein Volk zurück in das Land der Arche nahe dem Berg Ararat gebracht und das armenische Heimatland in einem letzten Kampf zwischen Gut und Böse verteidigt haben. In Erinnerung daran nennen sich die Armenier heute noch die Hayk.

Im Palast trafen sich die beiden Staatsoberhäupter zu einem vertraulichen Gespräch mit anschließendem Abendessen. Danach hielten sie eine gemeinsame Pressekonferenz ab. "Dieser Besuch ist eine großartige Gelegenheit, unsere bilateralen Beziehungen zu normalisieren", sagte Gül. Und Sargsjan sagte gegenüber Journalisten: "Ich habe die Bereitschaft und den Wunsch erkannt, für Stabilität und Frieden in der Region zu sorgen. Darüber bin ich sehr froh."

Vor dem Stadion flatterten Fahnen der Freundschaft mit den Worten "Armenien-Türkei" im Wind. Es wurden beide Nationalhymnen gespielt: Die Türkische, die den Halbmond auf rotem Grund ersucht: "Schenke meiner heldenhaften Rasse Dein Lächeln / Nur so soll unser Blut, welches wir für Dich vergießen, gesegnet sein." Die armenische versicherte hingegen "Geheiligt sei jener, der sein Leben für die Freiheit seines Volkes opfert". Auf einem Hügel gegenüber dem Stadion hatten Demonstranten Kerzen und Fackeln vor dem armenischen Völkermordmahnmal angezündet. Der Anstoß war um 21 Uhr. Das Spiel war fair aber unspektakulär, wobei die türkischen Gäste in der zweiten Hälfte zwei Tore zum 2:0-Sieg schossen. Um Mitternacht, nach weniger als acht Stunden auf armenischem Boden, war Abdullah Gül wieder zu Hause. Der Besuch verlief ohne Zwischenfälle.

Mancher in Jerewan hatte hohe Erwartungen gehabt: "Gesellschaftskritiker und die Medien hatten eine augenblickliche Lösung der lange auseinandergelebten Beziehung zwischen der Türkei und Armenien vorausgesagt", schrieb Hayk Demoyan, der Direktor des Völkermordinstituts in Jerewan. Aber es gab keine Lösung und es wurden auch keine bahnbrechenden Vereinbarungen getroffen. Die Grenzen blieben geschlossen und die diplomatischen Beziehungen weiterhin ausgesetzt. Drei Tage nach dem Besuch bezeichneten die Daschnaken das Treffen als "Gelegenheit zur Propaganda für die Türkei."

Doch es hatte sich eine Veränderung ergeben. Auf dem Rückflug nach Ankara sagte Gül gegenüber Journalisten, dass die Türkei und Armenien die "Dynamik, die dieser Besuch in Jerewan ausgelöst hatte, nutzen sollten", denn die nächste Gelegenheit könne "weitere 15 bis 20 Jahre auf sich warten lassen." Außenminister Ali Babacan verließ Jerewan nicht zusammen mit Gül. Er kehrte zurück zum Außenministerium am Platz der Republik, wo er sich mit dem armenischen Außenminister Edward Nalbandian bis in die frühen Morgenstunden unterhielt. Zwischen September 2008 und April 2009 trafen sich die beiden Minister weitere sieben Mal.

Zu diesem Zeitpunkt konnte noch niemand sagen, ob dieses Fußballspiel ein großer Schritt in Richtung einer wahrhaft historischen Versöhnung werden würde.

II. Verrat und Entschuldigung
A. Erste Risse in der Mauer

Am 9. Oktober 2000 gab der türkische Historiker Halil Berktay, Professor an der angesehenen Sabanci Universität in Istanbul, der Tageszeitung Radikal ein ganzseitiges Interview. "Sondereinheiten töteten die Armenier", lautete die Überschrift. Berktay gab der letzten osmanischen Regierung die Verantwortung für den Tod von mindestens 600.000 Armeniern im Jahr 1915 im letzten Jahrzehnt des Reichs. Er merkte an, der armenische Aufstand habe tausende toter türkischer und kurdischer Muslime zur Folge gehabt, "die Aktivitäten der armenischen Aufständischen waren eher verbunden mit örtlich begrenzten Gewalttaten." Die Reaktion der osmanischen Regierung jedoch hatte ein ganz anderes Ausmaß: Die Regierung, so Berktay, schuf "gesonderte Todesschwadronen" und freiwillige Einheiten von verurteilten Kriminellen, um die Massaker durchzuführen.

Noch nie zuvor hatte ein anerkannter türkischer Wissenschaftler in der Tagespresse so offen über die Verantwortung der Osmanen für das Massaker an den Armeniern gesprochen. Die Reaktionen ließen laut Berktay nicht auf sich warten:

"Nach dem Interview bekam ich sehr positive Reaktionen. Am Telefon, per E-Mail, von Leuten auf der Straße. Es gab weit mehr positive als negative Äußerungen. Gleichzeitig aber war der Teufel los. Am Tag nach dem Interview waren auf zahlreichen Webseiten persönliche Informationen über mich zu lesen, einige davon konnten unmöglich aus normaler journalistischer Recherche stammen. Es war ein abgestimmter Angriff. Ich bekam Drohbriefe. Es war sauber geplante Einschüchterung – gestellte Empörung."

Mit einem Artikel in der damals größten Tageszeitung Hürriyet griff Emin Çölaşan, einer der einflussreichsten türkischen Kolumnisten, Berktay in einem Artikel mit der Überschrift "Die uns in den Rücken fallen" an. Çölaşan bezichtigte Berktay des Verrats und verlangte seine Abberufung von der Universität Sabanci, weil er "seine Studenten gegen das Vaterland aufhetzt und ihren jungen Verstand mit Lügen beeinflusst." Als sich Berktay mit anderen türkischen Historikern im März 2001 zu einer Konferenz in Mühlheim in Deutschland traf, sprach die Hürriyet von einem "Treffen von Frevlern", bei dem "so genannte Türken sich über die Türkei hermachen."

Nach der klassischen türkischen Geschichtsschreibung wurde das Blutvergießen von 1915 in Anatolien von einem armenischen Aufstand zugunsten Russlands ausgelöst, das während des Ersten Weltkriegs gegen das Osmanische Reich kämpfte. Die osmanischen Machthaber reagierten auf die Rebellion mit Massendeportationen der armenischen Bevölkerung. Nach dieser Lesart waren die Todesopfer unter den Armeniern vor allem das Resultat von Krankheit und Entkräftung während der Deportationen. Der ehemalige türkische Botschafter Gündüz Aktan drückte es so aus: "Die Armenier verloren einen Bürgerkrieg, den sie selbst begonnen hatten."

Schon 1985 hatte Kamuran Gurun, damals Staatssekretär im Außenministerium nach dem Militärputsch 1980, in seinem Buch The Armenian File – The Myth of Innocence Exposed geschrieben, dass die Deportation von mehr als einer Million Armeniern eine Maßnahme war, die jeder Staat ergriffen hätte:

"Die Armenier wurden gezwungen, auszuwandern, weil sie sich auf die Seite des Feindes geschlagen hatten. Dass sie Zivilisten waren, ändert nichts an den Gegebenheiten. Die Opfer des Zweiten Weltkriegs in Hiroshima und Nagasaki waren ebenfalls Zivilisten […] Die Türkei tötete sie nicht, sondern siedelte sie nur um. Nur weil die damaligen Umstände keine bessere Lösung zuließen, kann man nicht davon sprechen, dass diejenigen, die starben, weil sie die harten Umstände der Reise nicht aushielten, von den Türken ermordet wurden."

Die in den 1930er Jahren eingerichtete Gesellschaft für Türkische Geschichte (TTK) legte die "korrekte" offizielle Linie der Ereignisse von 1915 fest. Ihr altgedienter Direktor Yusuf Halaçoğlu sprach von "519.000 durch die Armenier getöteten Muslimen", und betonte, dass "die meisten Armenier durch Krankheit starben … Die Zahl der Ermordeten beläuft sich anhand der uns vorliegenden Zahlen auf 8.000 bis 10.000." Er behauptete im Jahr 2007 außerdem, dass Armenier bis heute eine tödliche Gefahr für die Türkei darstellten, da "die Mehrheit" der PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) tatsächlich Kurden armenischer Herkunft seien. Dies war ebenfalls eine fixe Idee der Nationalisten. Im März 1994 hatte der landesweite Fernsehsender TRT behauptet, der Anführer der PKK, Abdullah Öcalan (Apo), sei ein Armenier namens Artun Hakobian.

Unter Berufung auf das Anti-Terrorgesetz und das türkische Strafgesetzbuch gab es in den 90er Jahren immer wieder Gerichtsverfahren gegen jeden, der die offizielle Linie infrage stellte. Als Belge Publishing Yves Ternons History of The Armenian Genocide (Tabu Armenien. Geschichte eines Völkermordes), veröffentlichte, wurde der Verleger zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt (was später auf sechs Monate verkürzt wurde). Als derselbe Verlag 1994 eine Übersetzung von Vahakn Dadrians Genocide According to International and National Law: The Armenian Example verbreitete, wurde das Buch verboten. 1995 verübten Unbekannte auf die Verlagsräume einen Bombenanschlag.

Im Jahr 2001 war Devlet Bahçeli, stellvertretender Ministerpräsident und Vorsitzender der MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung), maßgeblich verantwortlich für die Einrichtung eines ämterübergreifenden Koordinationsausschusses gegen Unbegründete Völkermordansprüche. Eines seiner Ziele war es, "sicherzustellen, dass junge Menschen über vergangene, gegenwärtige und zukünftige unzutreffende Anschuldigungen des Völkermords unterrichtet werden." Es verlangte nach neuem Unterrichtsmaterial für Geschichte in türkischen Schulen und stellte diese bereit – darunter ein Schulbuch von 2002, in dem behauptet wurde, die Völkermordanschuldigungen seien ein Komplott westlicher Mächte, um die Türkei zu schwächen, "weil sie eine starke Türkei weder heute noch morgen dulden können."

2003 zeigte der öffentlich-rechtliche Fernsehsender TRT eine der aufwändigsten Dokumentationen, die jemals im türkischen Fernsehen zu sehen waren. In sechs 40-minütigen Folgen, die in drei Jahren und in über 13 Ländern produziert worden waren, baut "Sari Gelin [Blonde Braut] – the true story" akribisch die Argumentation auf, dass die Armenier durch Umsturz und Aufruhr selbst ihre Vernichtung herbeigeführt, und dass armenische Terroristen Türken in der Geschichte immer wieder ermordet hätten. Die von Armeniern in der Provinz Iğdır in Ostanatolien verübten Gräueltaten wurden mit entsetzlichen Details aufgeführt. In einer Szene erinnern sich türkische Dorfbewohner: "Kinder wurden über dem Feuer gebraten … Frauen mussten ihre Ehemänner essen."

Im März 2007 schickte der Koordinationsausschusses gegen Unbegründete Völkermord-Klageansprüche die Serie an den Generalstab, das Bildungsministerium, das Außenministerium sowie an die Geheimdienste "zur Verwendung nach Bedarf." Im Juli 2008 verbreitete es das Bildungsministerium in der gesamten Türkei und ließ im Februar 2009 ein Rundschreiben folgen, in dem es die Schulen zur Aufführung vor Schülern ermahnte und um Rückmeldung an das Ministerium bat. Für einige Türken war der rassistische Tonfall des Films unerträglich. Der Kolumnist Ahmet Insel schrieb dazu, dass ihn die Dokumentation an typische Nazi-Propaganda erinnere. Türkische Armenier schrieben daraufhin einen offenen Brief an den Ministerpräsidenten:

"Wir können nicht nachvollziehen, welche Ziele der Generalstab oder das Bildungsministerium verfolgen, wenn Hass und Abneigung gegenüber Armeniern geschürt und in den Köpfen unserer Kinder eine anti-armenische Einstellung verankert wird."

Serdar Kaya, türkischer Vater einer Fünftklässlerin, reichte bei der Staatsanwaltschaft in Üsküdar (einem Istanbuler Stadtteil) Klage ein. "Meine Tochter wurde durch den Film sehr beunruhigt und verängstigt," sagte er, "und stellte mir Fragen wie 'Haben die Armenier uns abgeschlachtet?'" Nach der öffentlichen Entrüstung zog das Bildungsministerium die Dokumentation zurück und gab an, "auch ihm sei zu Ohren gekommen", dass die Dokumentation "in einigen Fällen unsachgemäß verwendet worden war."

B. Tabus und nationale Sicherheit

Der 1961 gegründete Nationale Sicherheitsrat (NSC) war Jahrzehnte lang eine der einflussreichsten Institutionen des Landes – insbesondere nach dem Militärputsch von 1980 –, und ordnete eine Reihe von Gesetzen zur Außen- und Innenpolitik an, um möglichen Gefahren für die Republik zuvorzukommen. Obwohl formell ein Beratungsgremium, diente der NSC dem Militär als Kanal, um seine Ansichten in weiten Bereichen politischer Angelegenheiten zum Ausdruck zu bringen.

Der NSC hat die Türkei durchweg als von Feinden umgeben dargestellt, die es nur auf ihre Vernichtung abgesehen hätten. Sein damaliger Generalsekretär Tuncer Kilinç stellte im April 2003 in Brüssel fest:

"Seit der Eroberung Istanbuls haben uns die Europäer als Feinde betrachtet … Europa stellte die Armenienfrage in den 1850ern zur Debatte. Nach dem Ersten Weltkrieg brachten sie die Armenier gegen uns auf und schufen so die Grundlage für dutzende darauf folgende schreckliche Ereignisse. Die PKK wurde von den Europäern eingesetzt. Wegen der EU wurden 33.000 Menschen unseres Volkes getötet. Die EU hat sowohl insgeheim als auch öffentlich Terrororganisationen in der Türkei unterstützt."

Innerhalb des vergangenen Jahrzehnts hat sich jedoch eine neue, liberalere Türkei herausgebildet. Im Zuge des EU-Beitrittsprozesses ist es für Leute mit Kilinçs Ansichten zunehmend schwerer geworden, die Landespolitik zu beeinflussen. Seit der Entscheidung im Dezember 1999, der Türkei den Status als EU-Beitrittskandidat zu geben, haben weitreichende Verfassungs- und Gesetzesreformen zivile und politische Rechte wieder verstärkt und den Demokratisierungsprozess verfestigt.

Am 23. Juli 2003 verabschiedete die Große Nationalversammlung der Türkei ein Gesetz, das die Rolle der NSC einschränkte. Er wurde zu einer rein beratenden Institution mit mehrheitlich zivilen Mitgliedern umfunktioniert. Auch verlor er die Befugnis, vom Präsidenten und dem Ministerpräsidenten zu verlangen, sich nach seinen "Empfehlungen" zu richten. Der NSC durfte nicht länger einen Vertreter in den Kontrollrat für Film, Video und Musik, den Rundfunkrat (RTÜK) und den Hochschulrat (YOK) entsenden. Im August 2004 wurde der erste zivile Generalsekretär des NSC eingesetzt.

Weil sich das politische Umfeld entspannte, stellten türkische Intellektuelle immer häufiger geschichtliche Tabus infrage. Viele sahen in der Debatte um die Ereignisse von 1915 eine Möglichkeit, die Hindernisse zu echter Demokratie in der Türkei in Angriff zu nehmen – zuvorderst den "Tiefen Staat" (auch Staat im Staat, oder türkisch: derin devlet), angeblich ein äußerst einflussreiches Netzwerk aus Mitgliedern des türkischen Militärs, nationalistischer Organisationen und der kriminellen Unterwelt. Diese Ansicht teilte auch Taner Akçam, der erste türkische Wissenschaftler, der den Staat aufforderte, die Ereignisse von 1915 als Völkermord anzuerkennen. Akçam behauptete, dass die politische Elite der Türkei gewissermaßen den Brauch der Straflosigkeit ihrer osmanischen Vorgänger übernommen hätte. Er hob hervor, die Anwendung von Folter durch die Polizei und die Tatsache, dass die Bevölkerung keinen genauen Einblick in den Militäretat bekam, sei von der Elite lange mit der Behauptung gerechtfertigt worden, die Türkei sei von Feinden umgeben, die auf ihre Vernichtung aus seien. Akçam brachte die Debatte um die Ereignisse von 1915, die anti-westliche Einstellung des Sicherheitsapparates und die autoritäre Neigung der Türkei in direkte Verbindung: "In der türkischen Gesellschaft offen über den Völkermord an den Armeniern zu sprechen, ihn also in die türkische Geschichtsschreibung einzubeziehen, rückt die Türkei unmittelbar ein Stück näher in Richtung wahre Demokratie."

Als die AKP-Regierung 2004 dabei war, die politischen Voraussetzungen für den Beginn von EU-Beitrittsverhandlungen zu erfüllen, veröffentlichte die Menschenrechtsanwältin Fethiye Çetin Anneannem (Meine Großmutter), in dem sie beschreibt, wie sie entdeckte, dass ihre Großmutter Armenierin war. Während der Deportationen von 1915 wurde Çetins Großmutter als Kind ihren Eltern weggenommen, um als muslimisches Mädchen aufzuwachsen. Das Buch wurde ein Bestseller. Viele ähnliche Fälle kamen zu Tage – einschließlich der über Atatürks Adoptivtochter Sabiha Gokçen, die erste weibliche Pilotin der Türkei und eine Nationalheldin. Die von Hrant Dink in Istanbul herausgegebene türkisch-armenische Wochenzeitung Agos bot solchen Enthüllungen eine Plattform. Vor allem der Fall Sabiha Gokçen machte Agos und Dink zum Feindbild einer unbändigen, nationalistischen Gegenbewegung.

2005 organisierte eine Gruppe türkischer Intellektueller, darunter Halil Berktay, eine Konferenz zur Erörterung des Schicksals der osmanischen Armenier. Für einige Etablierte war das eine zutiefst provozierende Veranstaltung. Justizminister Cemil Çiçek beschuldigte die Organisatoren im Parlament, "dem türkischen Volk in den Rücken zu fallen", eine allseits bekannte Anklage. Die Bosporus Universität entschied sich zunächst, die Konferenz zu vertagen, setzte sie aber neu an, nachdem 110 ihrer Gelehrten eine gemeinsame Erklärung unterzeichnet hatten, fortzufahren. Eine in letzter Minute durch ein Verwaltungsgericht in Istanbul vorgebrachte einstweilige Verfügung untersagte zwei Universitäten (Bosporus und Sabanci) die Veranstaltung, konnte aber nicht verhindern, dass sie schließlich im September 2005 an einer anderen (Bilgi) stattfand.

Die 270 Teilnehmer waren sich der politischen Bedeutung dieses Ereignisses wohl bewusst. Der Literaturprofessor Murat Belge, der nach dem Militärputsch 1971 zwei Jahre im Gefängnis saß, merkte in seiner Eröffnungsansprache an: "Das hat unmittelbar mit der Frage zu tun, was für ein Land die Türkei sein wird." Halil Berktay betonte: "Was 1915-1916 geschah, ist kein Geheimnis … Diese Angelegenheit befreit die Wissenschaft von nationalistischen Tabus." Eine Reihe angesehener türkischer Wissenschaftler erklärte öffentlich, dass die Ereignisse von 1915 als Völkermord anerkannt werden müssten. Agos-Herausgeber Hrant Dink sprach über die tiefe Verbundenheit der Armenier zu Anatolien. "Wir Armenier lieben diese Land, weil hier unserer Wurzeln sind. Aber keine Sorge. Wir wollen dieses Land niemandem wegnehmen, sondern herkommen, um hier begraben zu werden."

Die türkische Presse interpretierte die Veranstaltung größtenteils als das Ende des Zeitalters unterdrückter Debatten. Die Tageszeitung Milliyet schrieb: "Ein weiteres Tabu ist aufgehoben." Die Radikal verkündete auf der Titelseite: "Das Wort 'Völkermord' fiel auf der Konferenz, aber die Welt ist nicht untergegangen und die Türkei ist noch ganz." In den folgenden Monaten gingen die Debatten weiter. Das 2005 erschienene Buch What happened in 1915?, herausgegeben von Hürriyet-Kolumnist Sefa Kaplan, enthielt die ganze Palette von Ansichten türkischer Intellektueller, sowohl jene, die bestritten, dass es Massaker gegeben hatte, bis hin zu denen, die von Völkermord sprachen.

Allerdings stärkte es auch eine nationalistische Gegenbewegung. Der ultra-nationalistische Oberste Juristenverband gewann immer mehr an Bedeutung. Sein Vorsitzender Kemal Kerinçsiz teilte Kilinçs Weltansicht.

"Die Geschichte hat uns gelehrt, dass wir diesen Europäern nicht trauen können. Schaut nur, was 1920 geschah: Sie zerteilten das Osmanische Reich, obwohl sie versprochen hatten, es nicht zu tun. Man schimpft uns paranoid, aber wir sind es nicht."

Nach der Armenien-Konferenz erstattete Kerinçsiz Anklage 17 Personen, darunter Ministerpräsident Erdoğan und Außenminister Gül, die sich zuletzt für das Stattfinden der Konferenz eingesetzt hatten. Kerinçsiz erstattete des Weiteren Anzeige gegen mehr als 40 türkische Journalisten und Autoren nach dem Strafgesetzbuch wegen "Beleidigung des Türkentums". Und er erhob Klage gegen den Romanautor Orhan Pamuk wegen Bemerkungen, die dieser in einem Interview für eine Schweizer Zeitung zu den Morden an Armeniern und Kurden gemacht hatte. Im September 2006 brachte Kerinçsiz ein Verfahren gegen die Schriftstellerin Elif Shafak in Gang und behauptete, dass ihr Roman Der Bastard von Istanbul armenische Propaganda sei. Die Anklagepunkte beriefen sich auf Aussagen, die Romanfiguren abgegeben hatten. "Die Figuren in einem Roman mögen erfunden sein, aber die Autoren sind real", sagte Kerinçsiz. "In unserer Kultur darf niemand seine Vorfahren als Mörder brandmarken." Als Pamuk etwas später im Jahr 2006 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde, sah Kerinçsiz darin nur ein weiteres Zeichen der internationalen Verschwörung gegen die Türkei.

"Diese Auszeichnung ist eine Belohnung für die Lügen, die er über den sogenannten Völkermord erzählt … Es gehört alles zu Europas Plan, die Türkei aufzuteilen, wie sie es vor 90 Jahren getan haben. Sie wollen unser Land den Armeniern, Kurden und Griechen geben. Pamuk und die von ihm so geliebten Europäer sind die Feinde der Türkei."

Kerinçsizs erbittertste Attacken jedoch galten dem türkisch-armenischen Journalisten und Herausgeber Hrant Dink, der schon lange zur Versöhnung zwischen Türken und Armeniern aufrief. Die nationalistischen Medien starteten eine bösartige Kampagne gegen Dink, den "Feind der Türken". Er erhielt eine Flut von Morddrohungen. Im Oktober 2006, nach einer Klage durch Kerinçsiz, erhielt Dink eine 6-monatige Bewährungsstrafe wegen "Beleidigung des Türkentums". (Kerinçsiz legte Berufung gegen die seiner Meinung nach zu milde Strafe ein.)

Für Dink waren die Strafverfolgungen Teil einer umfangreichen Reaktion "dieser starken Macht, die fest entschlossen war, mich ein für alle Mal in meine Schranken zu verweisen, mich herauszugreifen und schwach und wehrlos zu machen" Freunden erzählte Dink, dass er sich besonders durch Veli Küçük, einen früheren General und radikalen Nationalisten, bedroht fühlte, der zusammen mit Kerinçsiz zu den Verhandlungen kam. Er dachte darüber nach, die Türkei zu verlassen, entschied sich aber dagegen "aus Respekt vor Tausenden von Freunden in der Türkei, die einen Kampf für die Demokratie fochten und die uns unterstützten. Wir würden bleiben und wir würden uns wehren."

Dink sollte im März 2007 noch einmal vor Gericht erscheinen, im Januar 2007 jedoch wurde er vor den Agos-Redaktionsräumen ermordet. Es war nur einer in einer Reihe von Morden an Christen, darunter ein italienischer Geistlicher in Trabzon (2006), und ein deutscher und zwei türkische Protestanten in Malatya (2007).

Die Reaktion der Bevölkerung auf den Mord an Dink zeigte, dass sich die Türkei gewandelt hatte. Noch im Jahr 2002 war der türkisch-armenische Journalist Hrant Dink in Urfa vor Gericht gestellt worden, weil er auf einer Konferenz gesagt hatte: "Ich bin kein Türke … sondern ein Armenier aus der Türkei." Nun wurde die Parole "Wir alle sind Armenier" für Hunderttausende in Istanbul zum Ausdruck ihrer Solidarität. In Istanbul fanden große Demonstrationen statt. Der Trauerzug für Dink wurde begleitet von einer riesigen Menschenmenge von Türken, Kurden, Armeniern und anderen Seite an Seite.

C. Aussicht auf eine vernünftige Debatte?

Die Gefahr für die türkische Demokratie war zu dieser Zeit tatsächlich weitaus größer als irgendjemand vermutet hätte. Im Januar 2008 machte die Nachricht einer groß angelegten Polizeiaktion gegen ein geheimes ultra-nationalistisches Netzwerk namens Ergenekon die Runde. Die Ermittlungen hatten im Sommer 2007 mit einem Waffenfund in einem Haus im Istanbuler Stadtteil Ümraniye begonnen, der zur Anklage von (bisher) 142 Personen wegen der Planung des Umsturzes der Regierung geführt hat. Darunter waren bekannte rechtsgerichtete Journalisten und Wissenschaftler, pensionierte Generäle und Persönlichkeiten aus dem Sicherheitsapparat – und unter ihnen jene, die Hrant Dink, Veli Küçük und Kemal Kerinçsiz am meisten bedroht hatten. Eine Reihe von Journalisten argumentieren, dass der Mord an Dink nur einer von mehreren war, die mit Ergenekon in Verbindung gebracht werden können und zur Strategie der Organisation gehört, den Staatsstreich vorzubereiten. Die Ermittlungen dauern an.

Die nationalistische Gegenbewegung erfuhr weitere Rückschläge. Im August 2007 entließ die Hürriyet Emin Çölaşan. Und im August 2008 entfernte die Regierung den Hardliner Yusuf Halaçoğlu vom Vorsitz der Gesellschaft für Türkische Geschichte. Das Gerichtsverfahren zu Ergenokon war in Gang gekommen, was die türkische Bevölkerung weiter ermutigte. Am 15. Dezember 2008 starteten türkische Intellektuelle eine Unterschriftenkampagne im Internet mit folgendem Text:

"Mein Gewissen lässt den Mangel an Sensibilität für, und die Verleugnung der Großen Katastrophe, der die osmanischen Armenier 1915 ausgesetzt waren, nicht zu. Ich lehne diese Ungerechtigkeit ab und trage meinen Teil bei, indem ich die Gefühle und den Schmerz meiner armenischen Brüder und Schwestern teile. Ich entschuldige mich bei ihnen."

Die Website ozurdilivoruz ("Wie entschuldigen uns") war mit 230 Unterschriften bekannter Intellektueller gestartet und hat bis heute fast 30.000 Unterschriften aus der Bevölkerung gesammelt. Die Kampagne löste die üblichen Denunziationen aus. "Ich schäme mich für diejenigen, die diese Kampagne initiiert haben," sagte Devlet Bahçeli, Vorsitzender der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP). Am 19. Dezember 2008 sagte der Militärsprecher General Metin Gürak gegenüber der Presse: "Diese Entschuldigung war falsch und sie könnte zu schlimmen Konsequenzen führen." Eine Gruppe pensionierter Botschafter erklärte: "Damit hat der armenische Terror seine Mission vollbracht. Wir wissen genau, dass die zweite Phase des Plans eine Entschuldigung enthalten wird, gefolgt von Forderungen nach Land und Entschädigung." Ministerpräsident Erdoğan distanzierte sich von der Entschuldigungskampagne: "Wie haben kein Verbrechen begangen, deshalb brauchen wir uns nicht zu entschuldigen." Die Generalstaatsanwaltschaft in Ankara jedoch weigerte sich, die Unterzeichner einer Internetkampagne strafrechtlich zu verfolgen. Präsident Abdullah Gül unterstrich, dass "jeder frei seine Meinung äußern darf." Cengiz Aktar, einer der führenden Intelektuellen und Urheber der Kampagne, dass dies nur der Anfang eines längeren Prozesses sei: "Zu den Hundertjahrfeiern, und fast jedes Jahr bis 2023 und darüber hinaus, haben wir die Gelegenheit, vom Schicksal der Armenier zu erfahren und daran zu erinnern."

Der innere Reformprozess der Türkei bleibt jedoch unvollständig. Der ämterübergreifende Koordinationsausschusses gegen Unbegründete Völkermord-Klageansprüche besteht weiterhin. Denkmäler und Museen erinnern an die Massaker der Armenier an den Türken während des Ersten Weltkriegs – aber in ganz Anatolien erinnert kein einziges Denkmal an die armenischen Opfer. Der Herausgeber Ragip Zarakolu wurde 2009 zu 5 Monaten Gefängnis verurteilt (umgewandelt zu einer Geldstrafe von 400 TL), weil er die türkische Übersetzung von The truth will set us free (etwa: Die Wahrheit wird uns befreien) veröffentlichte, das Buch eines Armeniers über seine Familiengeschichte im Anatolien von 1915. Zarakolu hat beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Berufung eingelegt. Das Ergenekon-Verfahren hat zudem gerade erst begonnen; und es bleibt unklar, ob die Verantwortlichen für den Mord an Hrant Dink je gefunden werden.

Aber die Debatte hat sich bereits dramatisch verändert. Murat Bardakçı, türkischer Autor und Kolumnist, veröffentlichte Anfang 2009 "The Remaining Documents of Talat Pasha” (Die verbliebenen Dokumente von Talat Pasha). Die Dokumente – die einst Mehmed Talat gehörten, dem Hauptverantwortlichen der Deportationen und Massaker an den Armeniern – weisen darauf hin, dass die Zahl der im osmanischen Reich lebenden Armenier von 1.256.000 vor 1915 auf 284.157 nur zwei Jahre später fiel: 972.000 osmanische Armenier verschwanden aus den amtlichen Aufzeichnungen zur Bevölkerungszahl zwischen 1915 und 1916. Die The New York Times schrieb dazu im März 2009:

"Mr. Bardakçı sagte, er habe die Dokumente so lange geheim gehalten – 27 Jahre – weil er abwartete, dass die Türkei den Punkt erreiche, an dem ihre Veröffentlichung keinen Aufruhr verursachen würde."

Murat Bardakçı sagte der Zeitung außerdem: "Ich hätte dieses Buch niemals vor 10 Jahren herausbringen können, man hätte mich als Verräter beschimpft. Die Mentalität hat sich verändert."

Im Jahr 2004 konnte Taner Akçam noch schreiben, dass es "allgemein anerkannt ist, dass Debatten zum Thema Gewalt gegenüber Griechen, Armeniern und Kurden in der Türkei tabu sind … Jeder Versuch, die Mauer des Schweigens zu durchbrechen, erfährt unweigerlich die schärfste Verurteilung." Nur fünf Jahre später beobachtet Halil Berktay:

"Der Gipfel des extremen Nationalismus (ulusalcilik) liegt hinter uns. Ein Staatsstreich wurde verhindert. Yusuf Halaçoğlu ist nicht mehr in der Gesellschaft für Türkische Geschichte, was entscheidend ist. Die Ergenekon-Ermittlungen zeigen Wirkung. Die Position der USA und der EU haben Wirkung gezeigt. Dann Hrant Dinks Tod und das Begräbnis. Heute haben wir eine völlig veränderte Türkei. Ich schreibe in der Taraf über den Völkermord. Es gibt keinen Aufschrei. Es gibt keinen öffentlichen Psychoterror, wenn man eine vernünftige Debatte führt. Ganz leise findet eine tief greifende Normalisierung statt."

III. Erfolg und Versagen der türkischen Diplomatie
A. "Keine Probleme mit den Nachbarn"

"Die Geschichte," so schrieb der britische Wissenschaftler Philip Robins, "lehrt die Türken Misstrauen, insbesondere gegenüber ihren Nachbarn, die ihr Territorium begehren oder die Größe ihre Volkes indirekt verringern wollen." Der ehemalige Staatssekretär im Außenministerium Sükrü Elekdag kam 1995 zum Schluss, dass es "stichhaltige Gründe gibt, weshalb die Türkei ihre Nachbarn mit Skepsis betrachtet und als eine Bedrohung sieht. Zwei Länder unter diesen Nachbarn, und zwar Griechenland und Syrien, die der Türkei schaden wollen, stellen eine unmittelbare Gefahr für die Türkei dar." 1998 führten zunehmende Kooperationen zwischen Armenien, Griechenland und dem Iran in der Türkei zu solcher Verärgerung, dass Außenminister İsmail Cem nach Teheran reiste und Griechenland beschuldigte, "muslimische Soldaten für neue Feldzüge zu rekrutieren." Nahil Şenoğlu, General und Kommandeur einer Militärakademie, erzählte Ende der 90er Jahre einer Gruppe junger Offiziere, dass die Türkei "umzingelt von der größten Anzahl von Feinden im In- und Ausland" sei und damit "das einsamste Land der Welt".

Gegen Ende des Jahrzehnts sah es nicht danach aus, als würde die EU, und erst recht nicht Griechenland, die Türkei als möglichen zukünftigen EU-Mitgliedsstaat betrachten; oder als könne die Türkei ihre Beziehungen zu Syrien grundlegend verbessern. Anfang 1999 standen die Beziehungen zwischen Ankara und Athen auf dem Tiefpunkt. Das gegenseitige Misstrauen veranlasste US-Präsident Bill Clinton am 14. Februar 1999 sogar zu Spekulationen, die beiden NATO-Bündnispartner könnten wegen der Gewalt im Kosovo gegeneinander Krieg führen. Am darauf folgenden Tag fasste ein Team türkischer Spezialeinheiten PKK-Führer Abdullah Öcalan in der kenianischen Hauptstadt Nairobi  und deckte damit gleichzeitig Athens Rolle beim Beschützen des "Staatsfeinds Nummer eins" der Türkei auf. Öcalan hatte sich in der griechischen Botschaft versteckt.

Es hätte nicht schlimmer kommen können – und das tat es auch nicht. Der griechische Außenminister, der für die Öcalan-Affäre verantwortlich war, wurde gefeuert. An seine Stelle trat ein langjähriger Befürworter der griechisch-türkischen Wiederannäherung, Giorgios Papandreou. Im August 1999 erschütterte ein großes Erdbeben die Marmararegion in der Türkei. Im September erschütterte ein kleineres Athen. Die Erdbeben führten zu noch nie dagewesener Solidarität zwischen Türken und Griechen. Die Reaktion auf die Erdbeben bildeten den hausgemachten Vorwand für eine Reihe diplomatischer Initiativen: Mehrere Treffen zwischen Papandreou und Cem ebneten den Weg zu einer neuen Stimmung der Entspannung. Beim Gipfeltreffen in Helsinki vom 10.-11. Dezember 1999 zog Griechenland seinen lange erhobenen Einspruch zum Beitritt der Türkei in die Europäische Union zurück. Die Türkei wurde offizieller EU-Beitrittskandidat.

Der Gipfel in Helsinki wurde zu einem Wendepunkt für das Verhältnis der Türkei zu ihren Nachbarn. Der EU-Kandidatenstatus stieß nicht nur einen Demokratisierungsprozess im Inneren an, sondern half auch bei der Neuorientierung der türkischen Außenpolitik fort von einem Fokus auf harte Sicherungspolitik hin zu weicher Macht (Soft Power). In der, wie es İhsan Dağı nennt, "Europäisierung" der türkischen Außenpolitik

"fand ein Paradigmenwechsel statt von einer reinen Machtpolitik, die getrieben war vom Überlebenswunsch in einer feindseligen Umgebung, hin zu einer liberalen außenpolitischen Agenda, die die Länder einer Region nicht als Kontrahenten sondern als Partner sieht und Kooperation über Konflikt und sanfte Macht über militärische Macht und Bedrohung stellt."

Die Europäische Union hat, schrieb Kemal Kirişci, "erfolgreich Einfluss auf die türkische 'Kultur der Anarchie' genommen und das Land aus einer Hobbes'schen Welt in Richtung der Kant'schen gebracht."

Die seit 2002 an der Macht befindliche AKP-Regierung bemerkte außerdem, dass die zahlreichen Auseinandersetzungen der Türkei mit ihren Nachbarn ihre Möglichkeit schwächte, in internationalen Angelegenheiten eine größere Rolle zu spielen. Ahmet Davutoğlu, einer der wichtigsten Denker der Partei zu internationaler Politik schrieb bereits 2001:

"Wenn ein Land ständig Krisen mit benachbarten Staaten erfährt, kann es unmöglich eine regionale und internationale Außenpolitik entwickeln. … Ganz besonders in unserer Region, wo autoritäre Regime die Regel sind, wird die Verbesserung der Transportmöglichkeiten, die Ausweitung des grenzüberschreitenden Handels, mehr kulturelle Austauschprogramme, und die Mobilisierung der Arbeitskräfte und Kapitalflüsse […] helfen, die Probleme zu beseitigen, die von der Rolle der zentralen Elite herrühren."

Die AKP-Regierung erkannte, dass weiche Macht ein effektiveres Mittel war, um die nationalen Interessen voranzubringen. Ministerpräsident Erdoğan kündigte eine Politik nach dem Motto "keine Probleme mit den Nachbarn" an – oder, wie er es im November 2008 ausdrückte "Freunde statt Feinde gewinnen". Das war keineswegs bloße Rhetorik. Innerhalb der letzten Jahre hat die Türkei die Beziehungen mit fast all ihren Nachbarn verbessert – vor allem mit Russland, Syrien, Iran, Irak und Griechenland. Mit der Unterzeichnung eines Abkommens setzten die Türkei und Syrien einem seit einem halben Jahrhundert währenden Territorialstreit im Mai 2008 ein Ende. Sogar bei der Zypern-Frage gab die Türkei 2004 ihre Zustimmung zum Annan-Plan für eine föderalistische Lösung, der dann aber von den griechischen Zyprioten abgelehnt wurde.

Gleichzeitig hat die Türkei einige ehrgeizige und weithin anerkannte Schlichtungsversuche unternommen – zwischen libanesischen Parteien; zwischen dem Irak und seinen Nachbarn; zwischen Pakistan und Afghanistan; zwischen Syrien und Israel. Eine merkliche Veränderung der Handelsstrukturen, Zeichen für ein breit gefächertes Außenpolitikressort, hat sich ebenso ergeben. Seit 2002 sind die Exporte in benachbarte Staaten und die Länder am Schwarzen Meer (Bulgarien, Griechenland, Syrien, Irak, Iran, Georgien, Aserbaidschan, Russland, Rumänien und Ukraine) Jahr für Jahr gestiegen – von 11 Prozent am Gesamtexport von 2002 auf 20 Prozent im Jahr 2008. Die Importe aus diesen Ländern haben sich über denselben Zeitraum von 15,5 Prozent auf 27,6 Prozent erhöht.

Die Leistungen der türkischen Außenpolitik haben sowohl ihr internationales Ansehen als auch ihren globalen Einfluss erhöht. Vor diesem Hintergrund besuchte der neue US-Präsident die Türkei auf seiner ersten Auslandsreise im April 2009.

Eigentlich hätte eine Politik, die auf eine aktive Auseinandersetzung mit den benachbarten Staaten setzt, auch zur Normalisierung der Beziehungen zu Armenien führen müssen, was sie aber nicht tat. "Die Türkei wünscht sich Frieden, Stabilität und Wohlstand in der Region", wie es Ali Babacan einmal ausdrückte, "aber wie Sie wissen, passt unser Verhältnis zu Armenien nicht in dieses Schema." Gespräche zur Stabilisierung der diplomatischen Beziehungen – bereits 1992 im Gange – fielen zunächst dem Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan um die Region Bergkarabach zum Opfer. Als die Armenier im Februar 1992 die Stadt Xocalı angriffen, zog der türkische Präsident Turgut Özal öffentlich in Erwägung, Aserbaidschan zu Hilfe zu kommen und mit Militärgewalt den "armenischen Vorstoß zu stoppen." Nicht einmal drei Monate später, nachdem die Armenier Schuschi erobert hatten, warnte Ministerpräsident Süleyman Demirel, "die Türkei kann dem Konflikt nicht tatenlos zusehen." Als Antwort auf die armenische Besetzung weiterer Gebiete um die Region Bergkarabach beendete Ankara im April 1993 Gespräche über diplomatische Beziehungen und Grenzangelegenheiten.

In den letzten fünfzehn Jahren wurde der ungelöste Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan immer mehr zu einem Hindernis für die türkisch-armenische Versöhnung. Die Schließung der Grenze zu Armenien seitens der Türkei hat wenig zur Lösung des Problems Bergkarabach beigetragen. Aserbaidschan wurde damit nicht geholfen und die Rolle der Türkei in der Region wurde geschwächt. Außerdem wurde die türkische "Soft Power" untergraben. Laut dem Statistischen Amt Armeniens lagen die Exporte in die Türkei 2007 bei mageren 3 Million US-Dollar und die Importe bei 131 Million US-Dollar (4 Prozent der armenischen Importe). Die verfahrene Situation der beiden Länder schadet weiterhin beiden Seiten – der umschlossenen Armenischen Republik ebenso wie den verarmten östlichen Provinzen der Türkei. Warum also war die Armenienpolitik der Türkei bisher so konträr zu ihrer Politik in der übrigen Region?

B. Völkermorddiplomatie

Im März 2005 wurde der amerikanische Historiker Justin McCarthy, der sich mit seinen Büchern über die Vertreibung der Türken aus dem Balkan und dem Kaukasus im 19. und frühen 20. Jahrhundert einen Namen gemacht hat, eingeladen, vor der Großen Nationalversammlung der Türkei zu sprechen. McCarthy ermutigte die Kammer, nicht jenen nachzugeben, die behaupteten, 1915 habe ein  Völkermord stattgefunden. Nachzugeben, warnte McCarthy, würde womöglich verheerende Konsequenzen nach sich ziehen, sowohl finanziell als auch territorial. Die nationalistische armenische Agenda habe sich in über einem Jahrhundert nicht geändert:

"Als Erstes soll die Türkische Republik feststellen, dass es den 'Armenischen Völkermord' gegeben hat und sich dafür entschuldigen. Zweitens werden die Türken zu Reparationszahlungen verpflichtet. Drittens soll ein armenischer Staat gegründet werden … Dann werden sie die Türken auffordern, Erzurum und Van und Elazığ und Sivas und Bitlis und Trabzon an Armenien zu geben."

Dies hätte wiederum ernsthafte Konsequenzen für die derzeitigen Bewohner Ostanatoliens:

"Die Bevölkerung des neuen 'Armeniens' wäre höchstens zu einen Viertel armenisch. Könnte solch ein Staat lange bestehen? Ja, er könnte bestehen, aber nur, wenn die Türken vertrieben würden. Das war die Strategie der nationalistischen Armenier 1915. Es wäre ebenso heute ihre Strategie."

McCarthys Rede wurde mit lautem Beifall aufgenommen. Schließlich war es eine Bestätigung eines der Grundsätze der türkischen Außenpolitik. Seit drei Jahrzehnten bemühte sich die Türkei, ihre Verbündeten davon zu überzeugen, dass die internationale Anerkennung des armenischen Völkermordes nicht nur eine Beleidigung für die Türkei wäre, sondern auch eine Gefahr für ihre territoriale Integrität.

Seit den 80er Jahren hat die Türkei enormes politisches Kapital darauf verwendet, ihre Sicht der  Armenienfrage auf der politischen Bühne zu verbreiten. Sie finanzierte Forschungseinrichtungen und nahm sie in Anspruch– wie zum Beispiel das Institute of Turkish Studies in Washington D.C. – um ihre Agenda voranzutreiben. Sie bemühte auch die Printmedien. Als beispielsweise dem US-Kongress 1985 ein Beschluss zum armenischen Völkermord vorgelegt wurde, schaltete die Türkei ganzseitige Anzeigen in der New York Times, der Washington Post und der Washington Times mit der Erklärung – die von 69 Gelehrten unterzeichnet war –, dass "Staatsmänner und Politiker Geschichte machen und Gelehrte sie aufschreiben" und dass "noch vieles erst entdeckt werden muss, bevor Historiker in der Lage sein werden, die genaue Verantwortung zwischen Kriegführenden und Unschuldigen zu entschlüsseln." 2005 finanzierte die Handelskammer in Ankara 600.000 Kopien der Dokumentationsreihe Sari Gelin, die sie als Beilage des Time Magazines in ganz Europa verbreiten ließ; auf Englisch, Deutsch, Französisch, Spanisch, Polnisch und Russisch. (Die Zeitschrift entschuldigte sich später, den Film ohne vorherige Prüfung verbreitet zu haben.)

Bis Mitte der 80er Jahre schien die türkische Kampagne zu funktionieren. Das uruguayische Parlament hatte 1965 als erstes einen Beschluss zu Ehren der "1915 ermordeten armenischen Märtyrer" verabschiedete. Außer Zypern sollte in den nächsten zwanzig Jahren niemand diesem Beispiel folgen. Die Türkei hatte ein paar Trümpfe im Ärmel: Im Kalten Krieg war sie ein wichtiger NATO-Verbündeter, während Armenien eine Sowjetrepublik war. Die im Libanon stationierte armenische Terrorgruppe ASALA (Armenian Secret Army for the Liberation of Armenia; Armenische Geheimarmee zur Befreiung Armeniens), die für einige tödliche Anschläge auf türkische Diplomaten im Ausland verantwortlich war, verband die armenische Sache mit nahöstlichem Fanatismus. Die Türkei hatte mächtige Freunde im US-Kongress und dem US-Außenministerium sowie überall in der westlichen Geschäftswelt. Aus geostrategischen Gründen hatte sie die Unterstützung der Pro-Israel-Lobby. Außerdem, wie Adam Jones hervorhob, "herrschte in den politisch mächtigen Bereichen der türkischen und israelischen Gesellschaft stillschweigendes Übereinkommen, den armenischen Völkermord an den Rand zu drängen, indem man die Einzigartigkeit und Unvergleichbarkeit des jüdischen Holocausts verkündete."

In den 90er Jahren jedoch wurden in den westlichen Demokratien offizielle Entschuldigungen für geschichtliches Unrecht immer gebräuchlicher. Rund um den Globus räumten Regierungen gegenüber den Taten früherer Generationen eine moralische Verantwortung ein, sei es die Art der Kriegsführung, Sklaverei oder die Misshandlung der einheimischen Bevölkerung. Da sich in der Türkei keine Entwicklung abzeichnete, wurde die Armenienfrage von Parlamenten in einigen anderen Ländern aufgenommen, darunter in den USA und Frankreich und im Europäischen Parlament, von denen manche Beschlüsse verabschiedeten, die das Wort "Völkermord" enthielten.

Die nachfolgenden türkischen Regierungen betrachteten diese Beschlüsse als feindseligen Vorgang. Es wurden Drohungen gegen Länder ausgesprochen, die Beschlüsse zum Völkermord verhandelten. Zum Beispiel warnte der frühere türkische Botschafter Gündüz Aktan während einer Anhörung im US-Kongress im Jahr 2000, dass die Verabschiedung eines Völkermord-Beschlusses zur Schließung der US-Luftwaffenbasis in Incirlik in der Süd-Türkei führen könnte. Armenien würde darunter ebenfalls leiden:

"Durch das Festhalten an der Anerkennung des Völkermords wird die armenische Führung und die Diaspora auch die wenigen verbliebenen, ihnen wohlgesonnenen Stimmen in der Türkei zum Schweigen bringen. Das wird die Schließung der Grenze zur Folge haben. In Anbetracht der Lage in Armenien kommt dieses Verhalten der armenischen Regierung einem Selbstmord gleich."

Dennoch war die Völkermord-Diplomatie der Türkei fast gänzlich erfolglos. Der Trend bei der internationalen Meinung geht klar und unwiderruflich in Richtung Anerkennung des armenischen Völkermords. Barack Obama mag zwar während seines Türkeibesuchs im April 2009 das Wort nicht benutzt haben, aber er tat es in der Vergangenheit und es ist sehr wahrscheinlich, dass er und andere Weltpolitiker es in der Zukunft wieder benutzen werden. Im Gegensatz zu den Befürchtungen der türkischen Führungsschicht jedoch ist dies kein Zeichen für eine anti-türkische Haltung, sondern spiegelt eher eine weltweite Veränderung des Verständnisses von Völkermord wider.

C. Ein Jahrhundert des Völkermords

Mit spürbarer Resignation stellte 2007 eine Veröffentlichung des Instituts für Armenienforschung in Ankara fest, dass die Anerkennung des armenischen Völkermords von einer nationalen Sichtweise Armeniens zur allgemein Ansicht unter Wissenschaftlern geworden war.

"In den letzten Jahren war bezüglich der Armenienfrage die hervorstechendste und zugleich die vielleicht am wenigsten beachtete Tatsache, dass die armenischen Behauptungen bei der westlichen Wissenschaft immer breitere Anerkennung finden. … Am Ende dieses Prozesses, der einer Kettenreaktion gleicht, werden viele weitere Wissenschaftler diese Veröffentlichungen lesen und sie in ihren Studien verwenden."

Diese Kettenreaktion war Teil des Aufkommens von Völkermord als neues Forschungsgebiet an westlichen Hochschulen. 1980 führte die Universität von Montreal den ersten Hochschulkurs überhaupt zur "Geschichte und Soziologie des Völkermords" ein. Nach Leo Kupers Buch Genocide – Its Political Uses in the Twentieth Century von 1981 breitete sich die Völkermordforschung rapide aus. Völkermord-Forschungsinstitute wurden in den USA und in ganz Europa eingerichtet. 1997 wurde die International Association of Genocide Scholars (IAGS, Internationaler Verband der Völkermordforscher) gegründet. 1999 stellte Israel Charny die erste Encyclopedia of Genocide (Enzyklopädie des Völkermords) zusammen, die zwanzig Seiten über den armenischen Völkermord beinhaltete. Samantha Powers Buch A Problem from Hell von 2002 über Amerikas Versagen, Völkermorde im 20. Jahrhundert zu verhindern,  wurde sowohl mit dem Pulitzer Prize als auch dem National Book Award ausgezeichnet.

Bis 1980 hatte sich die Völkermordforschung hauptsächlich auf den Holocaust konzentriert. Als der armenische Historiker Vahakn Dadrian begann, über das Thema "vergleichender Völkermord" zu schreiben, setzte er den Holocaust als Maßstab. Das taten auch seine Kritiker. Türkische Gelehrte lehnten das Kennzeichen Völkermord ab, indem sie den Unterschied von Hitlers Politik zu der der jungtürkischen Regierung hervorhoben. Ihre Argumente beruhten auf zwei Behauptungen. Erstens hätte, im Gegensatz zum Holocaust, die osmanische Befehlsgewalt niemals das "Ziel der Vernichtung" der Armenier ausgeben können, da wichtige armenische Bevölkerungen in Teilen der Türkei unversehrt blieben. Der amerikanische Historiker Guenther Lewy betonte in einem kürzlich erschienenen Buch, dass

"die großen armenischen Gemeinschaften in Konstantinopel, Smyrna und Aleppo von Deportation verschont blieben und … den Krieg weitgehend unbeschadet überstanden … Diese Ausnahmen sind vergleichbar mit dem Scheitern Adolf Hitlers, die Juden Berlins, Kölns und Münchens in der Endlösung zu vernichten."

Die zweite Behauptung lautet, dass sich die Armenier gegen die osmanische Obrigkeit aufgelehnt hatten – anders als die Juden des Nazi-Deutschlands – und deshalb nicht als "unschuldige Opfer" bezeichnet werden könnten. So drückte es Gündüz Aktan 2000 gegenüber dem US-Kongress aus: "Das Töten, selbst von Zivilisten, in einem Krieg um Gebiete, ist kein Völkermord. Die Opfer eines Völkermords müssen absolut unschuldig sein." Da die Ereignisse von 1915 nicht dem Ausmaß des Holocausts entsprachen, so lautete das Argument weiter, erreichten sie auch nicht das Ausmaß eines Völkermords und der Begriff werde daher aus rein politischen Gründen verwendet.

Dieses Argument übersieht jedoch, dass der Begriff "Völkermord" im internationalen Gebrauch niemals auf "mit dem Holocaust vergleichbare Handlungen" reduziert wurde. Den Anfang bildet die 1948 von der UN-Generalversammlung verabschiedete Völkermordkonvention (Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords). Die Konvention definiert "Völkermord" als:

"eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören: a) Tötung von Mitgliedern der Gruppe; b) Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe; c) vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen; d) Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind; e) gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe."

Inzwischen gibt es ein beachtliches Fundament aus Gerichtsprozessen, offiziellen Erklärungen und akademischen Studien, die diese Definition auf historische und heutige Ereignisse aus der ganzen Welt anwenden. 2003 bat der Staatsanwalt des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) den niederländischen Experten Ton Zwaan um eine Zusammenfassung der "wichtigsten Ergebnisse und Erkenntnisse auf dem Gebiet der 'Völkermordstudien'." Zwaan legte dar, dass detaillierte Studien seit den frühen 80er Jahren von bestimmten historischen Ereignissen deutlich gemacht haben, dass, während der Holocaust "ohne Zweifel der systematischste Versuch eines 'vollständigen' und 'vollendeten' Völkermords jemals" war, man deswegen nicht die Anerkennung anderer, weniger 'vollständiger' Formen von Völkermord für unbedeutend erklären solle. 

"In gewisser Weise waren alle Völkermorde 'unvollständige' Völkermorde … Es gab allerdings große Unterschiede zwischen dem Mord an den Juden und den nationalsozialistischen Völkermordstrategien gegen Teile der polnischen und russischen Bevölkerung unter deutscher Besatzung. Gleichzeitig kann man in allen drei Fällen Strategien eines Völkermords erkennen und das Stattfinden völkermordähnlicher Abläufe feststellen."

Die Schlüsselformulierung in der Konvention von 1948 ist "ganz oder teilweise". Die Internationale Vereinigung von Völkermordforschern formulierte es so: "Täter müssen nicht die Absicht haben, die gesamte Gruppe zu vernichten. Die Vernichtung auch nur eines Teils der Gruppe (z. B. ihrer gebildeten Mitglieder oder Mitglieder aus einer bestimmten Region) ist ebenso Völkermord."

Dieser Befund wurde von Gerichten und Untersuchungsausschüssen in zahlreichen  Fällen angewendet. Bei den Ermittlungen zu den Gräueltaten gegen das indigene Maya-Volk in den 70er und 80er Jahren, stellte die Wahrheitskommission von Guatemala fest, dass "Regierungsbevollmächtigte des Staates Guatemala im Rahmen der Niederschlagung des Aufstandes zwischen 1981 und 1983 Völkermorddelikte an Teilen des Maya-Volkes verübten." Die Entscheidung der Regierung, alle Mayas zu Unterstützern von Kommunismus und Terrorismus zu erklären, so heißt es im Bericht, führte zu "aggressiven, rassistischen und extrem grausamen … Übergriffen, die die gewaltige Vernichtung wehrloser Maya-Gemeinschaften zur Folge hatten."

Gleichermaßen wurde das Srebrenica-Massaker in Bosnien-Herzegowina von 1995, in dem bosnisch-serbische Kampfeinheiten circa 8.000 muslimische Jungen und Männer töteten, als Völkermord bezeichnet. In einem Urteil von 2004 beschloss der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY), dass es "das Ziel der Völkermordkonvention ist, die beabsichtigte Zerstörung ganzer Menschengruppen zu verhindern, wobei der als Ziel ausgewählte Teil bedeutsam genug sein muss, um sich auf die Gruppe als Ganzes auszuwirken." Und weiter:

"Die ermordeten Männer machten etwa ein Fünftel der gesamten Gemeinschaft von Srebrenica aus. Die Prozesskammer befand, dass angesichts des patriarchischen Charakters der bosnisch-muslimischen Gesellschaft die Vernichtung einer solch hohen Anzahl von Männern zwangsläufig das physische Verschwinden der bosnisch-muslimischen Bevölkerung in Srebrenica zur Folge hätte."

Auch Gelehrte und Gerichte haben die Bedeutung des "Vorsatzes der Vernichtung" klargestellt. So schrieb die Internationale Vereinigung von Völkermordforschern:

"Vorsatz kann man direkt anhand von Aussagen und Befehlen beweisen. Viel öfter jedoch muss man ihn aus einem systematischen Muster aufeinander abgestimmter Delikte ableiten. … Was auch immer das Motiv für das Verbrechen sein mag (Landenteignung, nationale Sicherheit, territoriale Integrität, etc.), sobald die Täter Delikte mit der Absicht begehen, eine Gruppe zu vernichten, und sei es nur ein Teil einer Gruppe, ist es Völkermord."

Zwangsumsiedelung wurde in einer Reihe von Fällen als Völkermord beschrieben, darunter die der amerikanischen Indianer. Unter Wissenschaftlern spricht man von "völkermordähnlichen Todesmärschen, am berüchtigtsten der Trail of Tears (Pfad der Tränen) der Cherokee- und Navaho-Völker, der zwischen 20 und 40 Prozent der betroffenen Bevölkerung gewissermaßen unterwegs tötete." Zur Auslöschung eingeborener Amerikaner in Spanisch-Amerika schreibt Adam Jones:

"Wenn Sklaven in den Minen oder auf den Plantagen nach nur wenigen Monaten wie die Fliegen sterben und man nicht darauf reagiert, indem man die Zustände ändert, sondern indem man noch mehr Menschen in das Inferno schickt, ist das Völkermord 'ersten Grades'. "

Eine Geschichte von Auseinandersetzungen zwischen zwei betreffenden Gruppen, oder auch das Vorhandensein eines direkten Bezugs zwischen einem ursprünglichen Erstangriff und der darauf folgenden Vergeltung, schließt den Befund des Völkermords nicht aus. Als Verteidiger der Hutu behaupteten, dass der Völkermord von Ruanda von 1994 die Fortführung eines Bürgerkriegs und ein Akt der Verteidigung gewesen sei, um einem Völkermord durch die Tutsi zuvorzukommen (den Hutu 1972 im benachbarten Burundi erlitten hatten), wies der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda die Argumentation zurück.

Dank dieser Interpretationen hat sich die Anzahl der Vorfälle, die international als Völkermord anerkannt wurden, ständig erhöht. Fachzeitschriften wie Holocaust and Genocide Studies und das Journal of Genocide Research veröffentlichen heute Artikel und Diskussionen über den Völkermord, den das antike Römische Reich 146 v. Chr. an Karthago verübte, über das Schicksal der australischen Urbevölkerung im frühen 20. Jahrhundert, über russische Verbrechen an Muslimen im Nordkaukasus, und über Völkermorde in Kambodscha, Ruanda, Osttimor, Burundi, Guatemala, der Ukraine (unter Stalin) und Bosnien. Das zunehmende internationale Interesse, insbesondere seit den Völkermorden in Srebrenica und Ruanda, hat die internationale Politik stark beeinflusst. Dies war beispielsweise einer der entscheidenden Faktoren im NATO-Beschluss von 1999, im Kosovo militärisch zu intervenieren.

Die Völkermordforschung hat sich somit beileibe nicht "die Türken herausgegriffen", wie es einige türkische Kritiker vermuteten. Ganz im Gegenteil hat die Forschung gezeigt, dass im 20. Jahrhundert – dem vielleicht gewalttätigsten in der Menschheitsgeschichte – in fast allen Regionen der Welt Völkermorde begangen wurden. Daher gibt es kaum ernstzunehmende Wissenschaftler auf dem Gebiet der Völkermordforschung, die bezweifeln, dass das, was den Armeniern 1915 widerfuhr, als Völkermord zu bezeichnen ist. Dies zu bestreiten hieße, sich einer internationale Übereinkunft zu widersetzen, die durch zahlreiche  Wissenschaftler, Kommissionen, Gerichte und Regierungen unterstützt wird. Es ist eine Übereinkunft, die die türkischen Diplomaten beseitigen wollten – ohne Erfolg.

D. Verlassen von den Verbündeten?

Beschlüsse, die an die Ereignisse von 1915 als Völkermord erinnern, sind inzwischen in mehr als zwanzig Staaten verabschiedet worden und türkische Politiker und Diplomaten sind irritiert, dass sie nicht einmal die engsten Verbündeten der Türkei für sich gewinnen konnten. Sie fühlen sich daher ausgebootet und ausgestochen von einer armenischen Diaspora mit augenscheinlich unerschöpflichen Möglichkeiten und politischer Schlagkraft. Die Erinnerung an die Ermordung von türkischen Diplomaten in den 70ern und 80ern durch ASALA-Terroristen macht die Niederlage noch schmerzlicher und bestärkt das Gefühl, die Türkei sei das Opfer einer Ungerechtigkeit.

Als die französische Nationalversammlung im Mai 1998 ein Gesetz mit einem Satz verabschiedete – "Frankreich erkennt öffentlich den Völkermord von 1915 an den Armeniern an" – wurden schnell französische Armenier als Verantwortliche beschuldigt. Viele der Parlamentarier, die das Gesetz ursprünglich vorgeschlagen hatten, vertraten Wahlbezirke – in den Vororten von Paris und Marseille, zum Beispiel – mit einer hohen Anzahl an französischen Armeniern. Ein türkischer Schriftsteller, Gürbüz Evren, mutmaßte, dass, wenn alle in Frankreich lebenden Türken die französische Staatsbürgerschaft hätten, "das Parlament einen Beschluss verabschieden würde, mit der Behauptung, dass es nicht die Türken waren die 1,5 Millionen Armenier ermordeten, sondern dass im Gegenteil die Armenier die Türken abgeschlachtet hätten."

Die Türken sehen in der armenischen Diaspora einen gefürchteten Gegner. Die größten armenischen Gemeinschaften außerhalb Armeniens leben in den USA (über 1,5 Millionen, davon die Hälfte in Kalifornien), Russland (über 2 Millionen), Frankreich (450.000), Georgien (460.000) und Libanon (234.000). Es gibt außerdem größere Gemeinschaften in Syrien, Iran und Argentinien.

Dennoch können viele dieser Beschlüsse nicht mit armenischer Lobbyarbeit oder gar durch scheinbar anti-türkische Einstellungen erklärt werden. Völkermordbeschlüsse wurden in Ländern mit geringem armenischen Bevölkerungsanteil verabschiedet – in Polen, einem langjährigen Verbündeten der Türkei, in Italien, in Litauen und in der Slowakei. Die Niederlande, ein Land mit einer der größten türkischen Gemeinschaften in Europa, verabschiedete 2004 einen Völkermordbeschluss, und zwar zu genau der Zeit, als die niederländische Regierung, damals Vorsitzende der EU, einen Starttermin für die EU-Beitrittsverhandlungen der Türkei zu vereinbaren suchte. Im Juni 2005 nahm in Deutschland – wo die größte türkische Gemeinschaft in Europa lebt – der Bundestag einstimmig einen Antrag zur "Erinnerung und zum Gedenken an die Vertreibung und Ermordung der Armenier im Jahr 1915" an.

Deutschland, das damals von einer rot-grünen Koalition unter dem sozialdemokratischen Kanzler Gerhard Schröder und dem Außenminister der Partei der Grünen Joschka Fischer regiert wurde, war einer der engsten europäischen Verbündeten der Türkei. Berlin hatte 1999 darauf gedrängt, die Türkei zu einem EU-Kandidaten zu machen; im Jahr 2000 änderte es das Staatsangehörigkeitsgesetz, um es den Hunderttausenden langjährigen türkischen Bewohnern einfacher zu machen, deutsche Staatsbürger (und damit Wähler) zu werden; 2004 unterstütze es ganz besonders die Beitrittsverhandlungen mit Ankara.

Der vom Bundestag verabschiedete – und gemeinsam von den Fraktionen von SPD, CDU/CSU, den Grünen und der FDP unterstützte – Schriftsatz war dennoch unmissverständlich:

"Der Deutsche Bundestag … verurteilt die Taten der jungtürkischen Regierung des Osmanischen Reiches, die fast zur vollständigen Vernichtung der Armenier in Anatolien führten."

Der Beschluss enthält auch einen Bezug zum Völkermord: "zahlreiche unabhängige Historiker, Parlamente und internationale Organisationen erkannten die Deportation und Vernichtung von Armeniern als Völkermord an." Die Verleugnungsstrategie der Türkei, so folgert er, "widersprach dem Versöhnungsgedanken, der die Grundlage der Wertegemeinschaft in der Europäischen Union ist."

Selten waren die Schwächen der türkischen Völkermorddiplomatie offensichtlicher als in ihren Versuchen, diesen Beschluss zu verhindern. Der türkische Botschafter in Deutschland, Mehmet Ali Irtemçelik, beschuldigte seine Unterstützer, sie fungierten als "Vertreter des fanatischen armenischen Nationalismus, der auf der ganzen Welt mit organisiertem Terrorismus arbeitet." Das türkische Außenministerium stellte mit Bedauern fest, dass "keine unserer Warnungen im Bundestag Beachtung gefunden hatten." Der parlamentarische Sprecher Bülent Arinç schrieb in einem Brief an seinen deutschen Kollegen, er sei betrübt über "diese einseitige Entscheidung des Parlaments eines befreundeten und verbündeten Landes." Jedoch vergebens. Der Grünen-Politiker Cem Özdemir, der bekannteste deutsche Politiker türkischer Abstammung, bemerkte schlicht: "Mit Staatspropaganda dieses Typs, die in einer geschlossenen Gesellschaft viel zu lange funktioniert hat, kann man in der internationalen Debatte nicht bestehen."

Selbst in den Vereinigten Staaten – wo einige Türken das Anerkennungsspiel noch immer für sich entscheiden wollen – ist das Versagen von Ankaras Völkermorddiplomatie nur zu offensichtlich. US-Präsident Ronald Reagan bezog sich in einer Rede von 1981 auf den "Völkermord an den Armeniern". George Bush Senior sprach von "schrecklichen Massakern, die die Armenier von 1915-1923 durch die osmanischen Führer erleiden mussten." Heute haben 42 US-Staaten (und damit 85 Prozent der amerikanischen Bevölkerung) den Völkermord an den Armeniern entweder qua Gesetz oder Proklamation anerkannt.

Die Türkei hat bei dem Versuch, die Verabschiedung eines Völkermordbeschlusses im US-Kongress zu blockieren, beachtliche politische Mittel eingesetzt. Als das Repräsentantenhaus im September 2007 bereit war, für einen unverbindlichen Beschluss abzustimmen, der den armenischen Völkermord verurteilte, rief die Türkei ihren Botschafter zurück. Ebenfalls 2008 stoppten Warnungen der Türkei die Verabschiedung eines Völkermordbeschlusses im Kongress. Der türkische Analytiker Ömer Taşpinar nannte es einen "Pyrrhussieg". Dass der Völkermordbeschluss nicht verabschiedet wurde, habe "nichts mit der plötzlichen Entdeckung neuer historischer Fakten zu tun, die die türkische Version der Geschichte belegen würden", bemerkte er, sondern schlicht mit strategischen Überlegungen; und zwar die amerikanische Abhängigkeit von der Hilfe und den Ressourcen der Türkei im Irakkrieg. Charles Krauthammer, ein einflussreicher Kommentator, der sich für die Türkei und die Ablehnung eines Beschlusses ausgesprochen hatte, schrieb ebenfalls zu dieser Zeit: "Dass seit 1915 zwischen 1 Million und 1,5 Million Armeniern in einer wohldurchdachten völkermordähnlichen Aktion brutal und systematisch ermordet wurden, ist eine Frage von simplen historischen Belegen." Kurzum, die Türkei überzeugte nicht einmal ihre Verbündeten von ihrer Version der Geschichte. Taspinar schloss deshalb, dass "die Türkei zwar eine entscheidende Schlacht gewann, aber letztendlich den Krieg verlor."

Nach den letzten US-Wahlen haben alle wichtigen Persönlichkeiten der neuen Regierung – Präsident Barack Obama selbst, Vizepräsident Joe Biden, Außenministerin Hillary Clinton sowie die Sprecherin des Repräsentantenhauses Nancy Pelosi – 1915 offiziell als Völkermord bezeichnet. Samantha Power, Autorin des Buchs A Problem from Hell, ist eine bedeutende Beraterin in Sachen Außenpolitik und Mitglied im Nationalen Sicherheitsrat. Auf Obamas Wahlkampf-Website war zu lesen:

"der Völkermord an den Armeniern ist keine Unterstellung, eine persönliche Meinung oder ein Standpunkt, sondern eine gut dokumentierte Tatsache mit zahllosen Belegen in der Geschichte."

"Als Senator befürworte ich unbedingt die Verabschiedung des Beschlusses zum armenischen Völkermord", verkündete Obama während seines Wahlkampfs, "und als Präsident werde ich den armenischen Völkermord anerkennen." Während eines Besuchs in Ankara im April 2009, mit dem er eine neue Ära in den amerikanisch-türkischen Beziehungen einläuten wollte, sagte Obama gegenüber Journalisten, seine Ansichten zum armenischen Völkermord hätten sich "nicht geändert und sind offiziell bekannt." Obamas Verzicht auf das "V-Wort" während seines Besuchs war eine höfliche und kluge Art und Weise, zu seinen Überzeugungen zu stehen, ohne den Gastgeber zu beleidigen. Es scheint jedoch nur eine Frage der Zeit zu sein, bis Obama und andere aus seiner Regierung bekräftigen, was sie schon mehrfach erklärt haben.

E. Die Folgen der Anerkennung

Im August 2004 besuchte die deutsche Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Heidemarie Wieczorek-Zeul eine Feier im namibischen Okakarara. Sie war gekommen, um eine formelle Entschuldigung für das von Historikern als ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts bezeichnete Verbrechen vorzubringen, das von deutschen Kolonialtruppen während des Herero-Aufstands 1904 verübt wurde:

"Wir Deutsche stellen uns unserer historischen und moralischen Verantwortung sowie der Schuld, die wir damals auf uns genommen haben … Die damals verübten Gräueltaten hätte man Völkermord genannt."

In Erwiderung auf einen Herero-Aufstand, bei dem etwa 130 deutsche Siedler und Soldaten getötet wurden, forderten die von Lothar von Trotha geführten Kolonialtruppen die Herero auf, Namibia zu verlassen oder ansonsten getötet zu werden. Männer, Frauen und Kinder wurden daraufhin ermordet oder in die Wüste verbracht, um dort zu sterben. Von etwa 100.000 Menschen überlebten nur ca. 15.000. 2001 strengten die Herero eine 4 Milliarden-US-Dollar-Klage gegen die deutsche Regierung und zwei deutschen Firmen mit Sitz in den USA an. Die Forderungen wurden von der deutschen Regierung mit der Begründung zurückgewiesen, das Internationale Humanitäre Völkerrecht zum Schutz von Kriegsgefangenen und Zivilisten hätte es zum Zeitpunkt der Auseinandersetzung nicht gegeben. Als die Bitte um Vergebung der Deutschen schließlich vorlag, genau einhundert Jahre nach den Ereignissen, wurden die Gerichtsverfahren eingestellt.

Die Türken haben lange argumentiert, dass eine internationale Anerkennung des Völkermords an den Armeniern sie als ein "Volk des Völkermords" herausheben und auf dieselbe moralische Stufe wie Nazi-Deutschland stellen würde. Es hat sich jedoch herausgestellt, dass dieselben Entwicklungen der internationalen Ansichten, die zu einer weit verbreiteten Anerkennung des armenischen Völkermords geführt haben, ihn zu einem weniger seltenen Vorfall gemacht haben, als es ein paar Jahrzehnte zuvor der Fall gewesen wäre.

Der pro-türkische Historiker Justin McCarthy erwähnte fast schon gedankenlos vor einem Publikum in Istanbul, dass laut der UN-Völkermordkonvention die "Türken tatsächlich des Völkermords schuldig seien" – und "ebenso Armenier, Russen, Griechen, Amerikaner, Briten sowie fast jedes Volk, das bis dato existiert hat." Obwohl seine Bemerkung eigentlich dazu gedacht war, die Völkermordkonvention lächerlich zu machen, so deutet sie doch auf eine tiefgreifendere Wahrheit: Es hat auf der Welt viel zu viele Völkermorde gegeben, verübt sowohl von westlichen als auch von Entwicklungsländern.

Anerkennungen von historischen Völkermorden vor der Konvention von 1948 jedoch waren bisher zumeist symbolische Handlungen, ohne die von den Türken so gefürchteten schlimmen Konsequenzen. Die seit 2000 zunehmende Anzahl der Beschlüsse zum armenischen Völkermord hat außerdem kaum das internationale Ansehen der Türkei untergraben. Im selben Zeitraum wurden die EU-Beitrittsverhandlungen eröffnet, die Türkei erhielt einen nichtständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat (den ersten seit den 60er Jahren), die Auslandsinvestitionen wuchsen exponentiell, und es gab international ausgiebiges Lob für die innenpolitischen Reformen sowie die außenpolitischen Initiativen der Türkei. Barack Obamas Besuch im April 2009 ist dabei ein weiteres Zeichen für wachsende Bedeutung der Türkei auf dem internationalen Schauplatz.

Die Völkermordbeschlüsse stellen keine Verbindung zwischen der Anerkennung eines Völkermords und Reparationsleistungen oder territorialen Zugeständnissen her. Tatsächlich hat die Entwicklung zur internationalen Anerkennung für die Türkei keinerlei materielle Konsequenzen mit sich gezogen. Der Beschluss des Europäischen Parlaments vom Juni 1987 stellt ausdrücklich klar, dass während "die tragischen Ereignisse von 1915-1917 die im Hoheitsgebiet des osmanischen Reichs lebenden Armenier betreffend als Völkermord zu bezeichnen sind […] die heutige Türkei nicht für die Tragödie verantwortlich gemacht werden kann, die die Armenier im osmanischen Reich erleiden mussten." 2002 suchte die türkisch-armenische Versöhnungskommission den Rat des einflussreichen International Centre on Transitional Justice in New York, um die Frage der gesetzmäßigen Haftung für den Völkermord zu klären. Ein von einem unabhängigen Rechtsbeistand entworfenes Gutachten besagte:

"Die Völkermordkonvention enthält keine Klausel, die ihre rückwirkende Anwendung  vorschreibt. Ganz im Gegensatz legt der Konventionstext nahe, dass er dazu gedacht war, beteiligten Staaten nur zukünftige Verpflichtungen aufzuerlegen. Deshalb können nach der Konvention keine rechtlichen, finanziellen oder territorialen Ansprüche aus den Ereignissen [von 1915] gegen Einzelpersonen oder einen Staat geltend gemacht werden."

Der weltweit führende Wissenschaftler im Bereich Völkermord und Internationales Recht William Schabas schrieb ebenfalls:

"Nur die Türkei selbst kann internationales Recht vor dem Internationalen Gerichtshof geltend machen, um das Recht auf Entschädigung des Völkermords an den Armeniern zu erwirken, was sie kaum tun wird."

Weder ein unverbindlicher Beschluss, wie er im US-Kongress zur Debatte gestellt wurde – für die politischen Entscheidungsträger der Türkei das Damoklesschwert über ihren Köpfen –, würde daran etwas ändern, noch eine Äußerung Präsident Obamas.

Das ist das Paradoxe an der Völkermorddiplomatie der Türkei. Immer mehr Türken wird bewusst, dass die internationale Position ihres Landes bezüglich der Armenienfrage nur zu Spannungen mit wichtigen Verbündeten führt und dabei gleichzeitig in ihrer Überzeugungsarbeit völlig fehlschlägt. Zudem bleiben hinsichtlich der Konsequenzen bei jeglicher Veränderung der offiziellen Linie zwar unklare aber dennoch starke Ängste bestehen. Solange die politischen Führer und Meinungsmacher der Türkei weiterhin Ängste vor Gebietsverlusten oder Reparationsleistungen schüren, wird sich die Türkei angegriffen fühlen. Weil weiterhin jede Erwähnung des 'V-Wortes' als Angriff auf die nationale Ehre betrachtet wird, hat sich die türkische Außenpolitik zur Geißel von Ereignissen gemacht, die sie nicht unter Kontrolle hat, insbesondere mit Blick auf den Kaukasus. Inzwischen ist es offensichtlich, dass diese ungewöhnliche Politik zu einer nationalen Belastung geworden ist.

IV. Der Traum von Großarmenien schwindet

Der Hintergrund auf Kiro Manoyans Computer in seinem Büro in Jerewan spricht Bände. Er zeigt ein Bild von Harput, der ehemaligen Heimatstadt von Manoyans Großeltern und einem Teil Südostanatoliens, der 1915 als ein "Schlachthaus-Vilâyet" (etwa: Provinz oder Stadt) bekannt wurde. Anfang 1915 beheimatete die Region einige Hunderttausend Armenier. Am 30. Dezember 1915 berichtete der US-Konsul in Harput, dass "wahrscheinlich nicht mehr als viertausend übrig sind." In der Zwischenzeit fand eine Schreckensherrschaft statt, die der amerikanische Historiker Guenther Lewy detailliert beschreibt:

"Mehrere hundert Armenier waren gefangen genommen worden, einschließlich fast aller bedeutender Persönlichkeiten. Beinahe jeder unter ihnen wurde gefoltert, um versteckte Waffen und Umsturzpläne zu verraten … Anfang Juli begannen die Behörden, die Gefängnisse zu leeren. Bündel von Männern wurden bei Nacht fortgeführt und man hörte nie wieder etwas von ihnen. Bald wurde bekannt, dass sie alle ermordet worden waren."

Manoyans Großeltern gelang die Flucht, indem sie bei türkischen Freunden Unterschlupf fanden, obwohl das Beherbergen von Armeniern damals als Kapitalverbrechen galt.

Kiro wurde im Libanon geboren, wo viele osmanische Armenier leben, die die Deportationen überlebt haben. Wie viele der um die ganze Welt verstreuten armenischen Gemeinschaften war auch die Diaspora im Libanon "eine gebrochene Flüchtlingsbevölkerung mit wenig oder gar keinem politischen Bewusstsein, mit starken regionalen und religiösen Identitäten, einem schwach ausgeprägten gesamtnationalen Zugehörigkeitsgefühl und sogar beschränkten oder gar keinen armenischen Sprachkenntnissen."

Die ohnehin schon höchst angespannte Haltung gegenüber Russisch-Armenien wurde durch Spaltungen innerhalb der armenisch-apostolischen Kirche weiter verschärft. Während des Kalten Krieges vertrat der im Libanon ansässige und mit den Daschnaken verbündete Bischofssitz Kilikien eine scharfe anti-sowjetische Haltung. Der Bischofssitz Etschmiadsin in Armenien wurde von anderen politischen Parteien der Diaspora unterstützt und befürwortete die sowjetische Obrigkeit. Während des libanesischen Bürgerkriegs von 1958 teilte sich die armenische Gemeinschaft in zwei Fraktionen und unterstütze jeweils eine andere Seite.

Am 24. April 1965, zum 50. Jahrestag des Massakers von 1915, versammelten sich 200.000 Armenier vor der Oper in Jerewan. Die Demonstranten warfen Steine und schrieen "Gerechtigkeit" und "Unser Land" und verlangten, dass die Türkei alle Gebiete zurückgeben müsse, wo einst Armenier gelebt haben, und baten die Sowjets um Hilfe. Zwei Jahre später war das armenische Völkermordmahnmal in Jerewan, das alle armenisch-bevölkerten Städte auflistet, die nun hinter der türkischen Grenze liegen, fertig.

Der Jahrestag 1965 sollte außerdem zu einem Wendepunkt für die riesige armenische Diaspora werden. Eine neue Gruppierung von ARF-Führern (Daschnaken) nutzte die anti-türkische Gesinnung, um eine gemeinsame Plattform für armenische Eintracht und Patriotismus zu schaffen. Der Ruf nach Gerechtigkeit, Reparationen und Entschädigung mobilisierte die verstreuten Gemeinschaften wie nie zuvor. Der Völkermord und der Kampf für seine Anerkennung wurde das zentrale Element des armenischen Nationalbewusstseins. Razmik Panossian drückte es so aus:

"Der Völkermord selbst (und seine Verleugnung) wurden zum Schlüsselereignis – gewissermaßen dem  ‘Gründungsmoment' – der zeitgenössischen armenischen Identität. Nach 1915 geborene Armenier, insbesondere jene in der Diaspora, sahen sich als 'die erste christliche Nation' und 'die ersten Opfer eines Völkermords im zwanzigsten Jahrhundert.'"

Mit wachsender Gegnerschaft zur Türkei wurde der Wunsch nach einem Großarmenien stärker – die Vereinigung der historischen armenischen Gebiete durch Änderung des türkischen Grenzverlaufs – und ersetzte das Ziel der Befreiung von sowjetischer Herrschaft. Die politischen Parteien der Diaspora überwanden zunehmend ihre Spaltung, um eine vereinigte Front gegen die Türkei zu bilden. Ein von den drei führenden Diaspora-Parteien 1975 bei der UN eingereichtes Memorandum forderte "die Rückgabe der in türkischer Hand befindlichen armenischen Gebiete an ihre rechtmäßigen Besitzer – das armenische Volk", neben "moralischen, finanziellen und territorialen Reparationsleistungen."

Wie viele Armenier floh auch Kiro Manoyan mit seiner Familie während des Bürgerkriegs aus dem Libanon und wanderte nach Kanada aus, wo er im ARF-Netzwerk aktiv wurde, das sich heute einer gemeinsamen Sache widmet. 2000 kam er nach Armenien und wurde ARF-Sprecher für Außenpolitik. Bis heute lehnt Manoyan die bestehende Grenze zur Türkei ab. In einem Interview mit der armenischen Tageszeitung Yerkir im April 2005 erklärte Manoyan, dass Armenien die Gebietsstreitigkeiten mit seinem erheblich mächtigeren Nachbar zur Sprache bringen wird, sobald sich eine Möglichkeit dafür ergibt.

"Wir glauben nicht, dass Armenien heute diese Forderungen stellen kann. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir das in Zukunft weiterhin nicht können. Also sollten wir keine Schritte unternehmen, die uns morgen behindern würden."

Die ist auch heute die offizielle Position der ARF. Während einer Parlamentsdebatte 2007 in Jerewan erklärte Vahan Hovhannisian, damals stellvertretender Parlamentssprecher und führender ARF-Politiker, die Verträge von Kars und Moskau von 1921, die die Grenze von heute festlegen, für "ungültig" (obwohl sie ratifiziert worden waren) und verlangte "sehr ernsthafte diplomatische und rechtliche Anstrengungen" um sie zu korrigieren. Auf der Debatte sprach auch Ara Papian, der ehemalige armenische Botschafter in Kanada, der ebenfalls die Wirksamkeit der beiden Verträge ablehnte und stattdessen behauptete, dass der Vertrag von Sèvres von 1920, der Armenien einen beträchtlichen Teil Ostanatoliens zusprach (aber nie ratifiziert wurde), weiterhin in Kraft sei. Papian hatte sogar eine konkrete Summe errechnet, 41.514.230.940 US-Dollar, die die Türkei als Reparationen für die während des Ersten Weltkriegs zugefügten Schäden zahlen müsse.

Nach Meinung von Armeniern wie Manoyan und Papian stellt die ungelöste Territorialfrage ein unüberwindbares Hindernis vor normale Beziehungen zwischen den benachbarten Ländern. Armen Ayvazian, Direktor des Instituts für Strategische Forschung 'Ararat', argumentiert seinerseits, dass Armenien – wenn es die Gebietsansprüche ernsthaft weiterverfolgen möchte – mit der Türkei keinerlei Kontakt halten sollte.

"Die Lösung der Armenienfrage liegt nicht in der internationalen Anerkennung des Völkermords, wie es viele verkennen und wie es die falschen Freunde Armeniens suggerieren. Die armenische Frage ist vor allem eine territoriale Frage …. Es gibt nur eine Lösung der Armenienfrage: Die Eigenstaatlichkeit Armeniens muss wiederhergestellt werden. Wenn nicht in ganz Armenien (350.000 km2), dann zumindest für einen beträchtlichen Teil davon, damit die sichere und langfristige Existenz und die Entwicklung der armenischen Zivilisation sichergestellt werden kann."

Ayvazian vergleicht das heutige Armenien (29.800 km2) mit einer "verlassenen Burg", die dem Volk keinen Platz bietet, sich zurückzuziehen und seine Kräfte neu zu sammeln. Dies könne nicht akzeptiert werden. Ayvazian übt außerdem strenge Kritik an den armenischen Behörden, die mit der Türkei zu nachgiebig umgingen, insbesondere angesichts des Besuchs von Präsident Gül 2008 in Jerewan.

"Während sich Israel unter allen Umständen dem den Holocaust leugnenden Iran entgegenstellt, lädt die armenische Regierung den Leugner des armenischen Völkermords Abdullah Gül nach Armenien ein und fordert unser Volk dazu auf, die Flagge und Hymne des Feindes zu respektieren."

Extreme Positionen wie die Ayvazians sind unter Armeniern immer noch üblich, sowohl im In- als auch im Ausland. Als Teil eines politischen Programms jedoch erscheinen sie zunehmend unwirksam, da sie keine effektive Strategie oder realistische Perspektive bieten, die armenischen Gebietsansprüche voranzubringen. Mehr noch sind sie inzwischen nicht mehr geeignet, die Armenier, ob in Armenien selbst oder in der Diaspora, zu vereinen.

Zu Hause hat die ARF nie mehr als 14 Prozent der Stimmen bekommen. Als kleinerer Partner in der aktuellen Koalitionsregierung ist ihr Einfluss auf die Außenpolitik beschränkt. Bezeichnenderweise war bisher jede armenische Regierung seit der Unabhängigkeit für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der Türkei ohne jegliche Vorbedingungen.

Selbst in der Diaspora gibt es unterschiedliche Positionen. Während manche Armenier jeglichen Kontakt mit Türken ablehnen, solange die Türkei nicht den Völkermord zugibt, Reparationen zahlt und Gebiete "in Westarmenien" zurückgibt, sind andere dialogbereit. Das Armenian National Committee of America (ANCA; Armenisches Nationalkomitee Amerikas), ein zur ARF gehöriges Netzwerk, betrachtet die Türkisch-Armenische Versöhnungskommission von 2001 – ein Versuch des amerikanischen Außenministeriums, bedeutende Armenier und Türken an einen Tisch zu bringen – als "eine türkische List, um die internationale Anerkennung des Völkermords an den Armeniern zu behindern" und "ein Hindernis im Kampf für die Anerkennung des Völkermords." Die Armenian Assembly of America (AAA; Armenische Versammlung Amerikas) andererseits nahm daran teil.

Indes hat die internationale Anerkennung des Völkermords nicht für internationalen Zuspruch für die Änderung der Grenzen gesorgt, eines der Hauptziele der ARF. Die Beschlüsse und Proklamationen von Drittländern, bestätigt Simon Payaslian, ein Historiker der Diaspora, "vernachlässigen die Thematik der Vergeltung, Entschädigung und Rückgabe; insbesondere ignorieren sie die Tatsache, dass die Armenier als Folge des Völkermords ihre geschichtlichen Gebiete verloren haben." Deshalb stellen armenische Hardliner in Frage, ob es klug ist, auf der ganzen Welt so hart für die Anerkennung des Völkermords zu kämpfen. Oder wie Papian es ausdrückt:

"All unsere Kraft konzentrierte sich auf den Völkermord. Dabei ist es offensichtlich, wenn Menschen aufgrund ihrer Volkszugehörigkeit ermordet werden, handelt es sich um Völkermord. Es ist sinnlos darüber zu diskutieren, ob er stattgefunden hat oder nicht."

Der "raue und rücksichtslose" Diskurs der armenischen Nationalisten, schreibt Gerard Libaridian, ein führender amerikanisch-armenischer Intellektueller und früherer Berater des armenischen Präsidenten Lewon Ter-Petrosjan, "beschuldigt alle Türken, die heute und früher lebenden, an dem Verbrechen beteiligt gewesen zu sein. Es war, oder erschien als ein Kampf alle Armenier gegen alle Türken … Die Strategie der Verleugnung des Völkermords wurde schlicht als Offenbarung des üblen Charakters der Türkei und der Türken gesehen." Indem er die Völkermordanerkennung an Gebietsansprüche gebunden habe, fügt er hinzu, habe sich der nationalistische Diskurs als kontraproduktiv erwiesen.

"Armenische politische Parteien betrachteten eine Anerkennung des Völkermords seitens der Türkei als ersten Schritt und die rechtliche Grundlage für Gebietsforderungen an die Türkei. Selbst wenn es keine anderen Gründe gäbe, wäre diese Verknüpfung für den türkischen Staat Grund genug, den Völkermord um jeden Preis zu leugnen."

Der Historiker Donald Bloxham stellt unumwunden klar, "dass es keinen logischen Zusammenhang gibt zwischen der Anerkennung des Völkermords und der Rückgewinnung von Gebieten von der Türkei" und er fordert die armenischen Nationalisten auf, die grundlegende Frage zu beantworten, "ob die Anerkennung wirklich zur Versöhnung und dazu führen wird, dass Wunden heilen, wie man uns oft versichert, oder ob es nur ein Mittel ist, um nationalistische Missstände zu beseitigen. Handelt es sich um eine Frage der geschichtlichen Wahrheit, Moral und Verantwortung oder um unerfüllte politische und materielle Forderungen?"

V. Vögel mit Flügeln

Im Dezember 2007 hielt Lewon Ter-Petrosjan (Armeniens erster Präsident von 1991 bis 1998) im Rahmen seines Präsidentschaftswahlkampfes eine bedeutende Grundsatzrede auf dem Freiheitsplatz von Jerewan. Nachdem er seine Zuhörer über seinen persönlichen Hintergrund aufgeklärt hatte – "Ich bin ein Nachkomme von Überlebenden des Völkermords. Mein Großvater kämpfte in der heldenhaften Schlacht von Musa Dagh. Mein sieben Jahre alter Vater brachte Essen und Trinken an die Stellungen. Und meine Mutter wurde in diesen Tagen in einer Höhle geboren. Wäre die französische Kriegsmarine nicht zufällig entlang der Küsten von Musa Dagh gesegelt, wäre ich heute nicht am Leben" – legte er das Argument für die Verbesserung der Beziehungen zur Türkei dar:

"Es ist endgültig an der Zeit, zu begreifen, dass niemand die Türkei durch Ultimaten oder in die Ecke drängen dazu zwingen kann, den armenischen Völkermord anzuerkennen. Ich habe überhaupt keine Zweifel, dass die Türkei es tun wird – früher oder später. Allerdings wird das nicht vor einer Normalisierung der armenisch-türkischen Beziehungen geschehen, und nur nach Schaffung einer Atmosphäre aus ehrlicher Freundlichkeit, Zusammenarbeit und Vertrauen zwischen unseren Ländern. Folglich, und lassen wir die Gefühle beiseite, müssen diese Beziehungen auf Grundlage der Realität aufgebaut werden, dass Armenien die Ereignisse von 1915 als Völkermord betrachtet, und die Türkei nicht."

Ter-Petrosjan hatte keine Einwände gegen Armenier, die in der Diaspora daran arbeiteten, eine Anerkennung des Völkermords zu erreichen. Wie er es ausdrückte, "Die Söhne und Töchter der armenischen Diaspora, als Bürger, Steuerzahler und Wähler der verschiedenen Länder, haben das Recht, Druck auf ihre Regierungen auszuüben." Das Interesse Armeniens jedoch bestand nicht darin, im Ausland Lobbyarbeit gegen die Türkei zu betreiben, sondern die Türkei sich zu einer erfolgreichen europäischen Demokratie entwickeln zu sehen. Die Versuche armenische Regierungsstellen, den EU-Beitrittsprozess der Türkei zu unterminieren, waren deshalb ein Zeichen von "Inkompetenz":

"Ist es nicht offensichtlich, dass der Beitritt der Türkei zur EU in jeder Hinsicht auch in Armeniens bestem Interesse liegt – wirtschaftlich, politisch, sicherheitspolitisch? Was ist gefährlicher – die Türkei als EU-Mitglied oder eine Türkei, die vom Westen verschmäht wurde und sich deshalb dem Osten zugewandt hat? Oder was ist wünschenswerter: Armenien vom Westen isoliert oder ein Armenien an der Grenze zur Europäischen Union? Die Außenpolitik unserer Länder hätte diese einfache Fragen längst beantworten müssen."

Schon bevor Armenien seine Unabhängigkeit von der Sowjetunion erklärte, rief Ter-Petrosjan gerne das Schicksal der ersten Republik in Erinnerung, die zwischen 1918 und 1920 für weniger als zwei Jahre andauerte. Um dieses Schicksal zu vermeiden, so glaubte er, braucht Armenien eine ausgeglichene Außenpolitik und insbesondere gute Beziehungen zur Türkei. Sechs Monate vor Armeniens Unabhängigkeit traf sich Ter-Petrosjan mit Volkan Vural, dem türkischen Botschafter in Moskau, und versicherte ihm, dass:

"Armenien sich verändert und wir in dieser neuen Welt Nachbarstaaten mit neuen Ansichten sein sollten. Wir wollen Freunde werden. Wir sind bereit zu jeglicher für beide Seiten zuträglichen Zusammenarbeit. Armenien hat gegenüber der Türkei keine Gebietsansprüche."

Letztendlich schaffte es Ter-Petrosjan jedoch nicht, diplomatische Beziehungen mit der Türkei aufzubauen. Als er von Robert Kotscharjan, dem ehemaligen Oberhaupt der Splitterrepublik Bergkarabach, aus dem Amt gedrängt wurde, schrieben viele in der neuen Führung in Jerewan die Politik des Entgegenkommens des früheren Präsidenten als Misserfolg ab. Kotscharjan brachte die ARF-Partei (Daschnaken), die zuvor gesetzlich verboten worden war, in seine Regierung und beschloss, enger mit der armenischen Diaspora zusammenzuarbeiten. Im September 1999 organisierte er die erste große armenische Diaspora-Konferenz in Jerewan. Er machte außerdem die Frage der internationalen Anerkennung des Völkermords zur Priorität der armenischen Außenpolitik. Zwar versicherte er der Türkei, dass die Anerkennung des Völkermords nicht zu Gebietsansprüchen führen werde, gleichzeitig aber bemühte er sich wenig, der Türkei die Hand zu reichen – und betonte dabei, dass "nicht wir es sind, die die armenisch-türkische Grenze geschlossen halten."

Im April 2008 wurde Robert Kotscharjan von seinem ehemaligen Ministerpräsidenten Sersch Sargsjan abgelöst, der zuvor Ter-Petrosjan bei den Wahlen geschlagen hatte. Während des Wahlkampfes hatten einige Medien Ter-Petrosjan als türkophil dargestellt und ihn ‘Lewon Efendi' genannt. Nachdem Sargsjan jedoch gewählt war, entschloss er sich, Kontakt zu Armeniens westlichem Nachbar zu suchen. Am 23. Juni 2008 wandte er sich in Moskau an die Vertreter der armenischen Diaspora und bemerkte:

"Armeniens Haltung ist deutlich; im 21. Jahrhundert darf es zwischen benachbarten Ländern keine geschlossenen Grenzen geben. Die regionale Zusammenarbeit könnte der beste Weg zu mehr Stabilität sein. Die türkische Seite bietet an, eine Kommission zur Erforschung historischer Fakten zu gründen. Wir haben nichts gegen eine solche Kommission, solange die Grenze zwischen den Staaten offen ist."

Dann erst lud der neue armenische Präsident seinen türkischen Kollegen Abdullah Gül nach Jerewan ein. In einem Artikel im The Wall Street Journal vom 9. Juli 2008 erläuterte Sargsjan seine Haltung genauer:

"Die Zeit ist reif für einen neuen Versuch, den Stillstand aufzulösen, eine Situation, die niemandem hilft und viele verletzt. Als Armeniens Präsident nutze ich die Gelegenheit, einen Neuanfang vorzuschlagen – eine neue Phase des Dialogs mit der Regierung und dem Volk der Türkei mit dem Ziel einer Normalisierung der Beziehungen und dem Öffnen der gemeinsamen Grenze … Es gibt keine echte Alternative zum Aufbau von normalen Beziehungen zwischen unseren Ländern."

Als sich Präsident Abdullah Gül entschloss, Sargsjans Angebot anzunehmen und Jerewan zu besuchen, verschob der von Ter-Petrosjan geführte oppositionelle armenische Nationalkongress einen für den 5. September geplanten Protestmarsch gegen Präsident Sargsjan. "Wir unterstützen die Normalisierung der armenisch-türkischen Beziehungen", sagte der ANC in einer Darstellung, "und wir wollen in keinster Weise ein Ereignis überschatten, das die Aussichten auf diese Beziehungen fördert." Nur Kotscharjan drückte seine Missbilligung aus. Als er bereits im Juli 2008 gebeten wurde, zu Anschuldigungen Stellung zu nehmen, wonach er hinter den Kulissen weiterhin "das Land regiere", antwortete er, dass "wenn das der Fall wäre, Lewon Ter-Petrosjan wegen krimineller Handlungen nun höchstwahrscheinlich schon im Gefängnis säße … und der türkische Präsident ganz sicher nicht wegen eines Fußballspiels nach Jerewan eingeladen würde." Nun wurde Sargsjan der Beschwichtigungspolitik bezichtigt. Haykakan Jamanak, eine oppositionelle Tageszeitung, beschuldigte den neuen Präsidenten, der Türkei gegenüber zu viele "Zugeständnisse" zu machen. Das Titelblatt zeigte Sargsjan – "Serschik Efendi", wie ihn die Zeitung nannte – mit einem osmanischen Fes. Es fragte: "Wie soll man so ein Verhalten nennen? Ist es Schmeichelei, ein Flirt, Eigennutz oder einfach Verrat?"

Einige Armenier glauben weiterhin, dass die Türkei sich nicht ändern kann. Argwohn gegenüber den Motiven der Türkei und Furcht vor ihren wahren Absichten sind weit verbreitet, sowohl auf der Straße als auch in den Medien. In einer Meinungsumfrage von 2004 nannten 68,7 Prozent der armenischen Befragten auf die Bitte, Türken mit einem Wort zu charakterisieren, negative Beschreibungen – darunter "blutrünstig" (6,4 Prozent), "Feind" (10,1 Prozent), "Barbar" (9,1 Prozent) und "Mörder" (6,4 Prozent). Nur 6 Prozent der Befragten gaben positive Beschreibungen ab. Als türkische Intellektuelle die Entschuldigungskampagne für 1915 starteten, stellte eine Reihe Armenier ihre Absichten infrage aus Sorge, die Initiative sei dazu geschaffen worden, um die armenische Kampagne zur Anerkennung des Völkermords  zu behindern. Einige Analysten und Politiker betonten, dass "die Anzahl der Unterzeichner zu gering ist, um von öffentlicher Unterstützung für die Initiative zu sprechen und die Autoren der Petition haben den Begriff Völkermord nicht verwendet."

Erinnerungen an 1915 traten mit dem Mord an Hrant Dink im Januar 2007 wieder in den Vordergrund. Zahlreiche Demonstrationen und Gedenkveranstaltungen fanden gleichzeitig in ganz Armenien statt. Die Jugendorganisation der ARF führte am 22. Januar einen Protestmarsch vor das Büro des Europarats in Jerewan. Auf ihren Plakaten war zu lesen: "Der Völkermord geht weiter", "Türkei, Deine Hände sind blutig!", "Haltet die Türken auf!", "Verlangt nach der Wahrheit über den Dink-Mord". Am 24. Januar zog eine vom Büro des Bürgermeisters von Jerewan und dem armenischen Schriftstellerverband organisierte Kundgebung mit laut Nachrichten bis zu 100.000 Teilnehmern zum Völkermordmahnmal in Jerewan, um das Attentat zu verurteilen. "Der Völkermord geht weiter" soll einer der Teilnehmer gesagt haben. Während einer Parlamentsdebatte schlug der ehemalige Ministerpräsident Chosrow Harutjunjan (1992-93) vor, dass "Armenien alles daran setzen sollte, der internationalen Gemeinschaft zu zeigen, dass sich die Türkei kein bisschen geändert hat."

Gleichzeitig kamen in Jerewan viele Menschen – beeindruckt von den Bildern über Dinks riesigen Trauerzug und Berichten über die aufrichtige Trauer vieler Türken – zum genau gegenteiligen Entschluss. So schrieb die Haykakan Jamanak-Kolumnistin Anna Hakobian,

"Die Bilder im Fernsehen waren wirklich beeindruckend. Die Flut von hunderttausenden von Menschen, die den Sarg von Hrant Dink begleiteten, waren beeindruckend; der Beifall, der ab und an zu hören war, beeindruckte; die Plakate und Rufe "Wir sind alle Armenier, wir sind alle Hrant Dink", "Stoppt den Artikel 301", "Seite an Seite gegen Faschismus" waren beeindruckend … Noch vor Hrant Dinks Begräbniszeremonie taten türkische Behörden einen beispiellosen Schritt zur Versöhnung auf die armenischen Behörden zu."

Die neue Einigkeit über die Vorteile einer Politik der offenen Hand gegenüber Ankara, , gepaart mit der jüngsten Liberalisierung der Türkei hat eine neue Möglichkeit für eine historische Annäherung geschaffen. Dies hatte auch spürbare Auswirkungen auf die Art und Weise, wie die armenische Gesellschaft die Türken und die Türkei wahrnimmt. Eine Reihe an vom IRI durchgeführten Umfragen zeigte kürzlich, dass im März 2007, nach dem Attentat auf Dink, 89 Prozent der Armenier die Türkei als eine der größten Bedrohungen für ihr Land betrachteten. Im Januar 2008 war diese Zahl auf 56 Prozent gefallen.

In einem Interview im Dezember 2006 behauptete der armenische Außenminister Wartan Oskanjan dass ein Komitee aus armenischen und türkischen Historikern, wie 2005 vom türkischen Ministerpräsidenten Erdoğan vorgeschlagen, zu keinem Ergebnis kommen würde. Türkische Historiker, sagte er, könnten das Wort "Völkermord" nicht aussprechen.

"Wie sollen sie auch mit armenischen Historikern sprechen? Dagegen gibt es in der Türkei Gesetze. Das ist, als würde man einen Vogel aus seinem Käfig entlassen und ihm die Flügel brechen."

Heute jedoch trifft das nicht mehr zu. In dem neuen Klima heilen die gebrochenen Flügel, was sowohl der Türkei als auch Armenien neue Möglichkeiten bietet.

Gerard Libaridian beschrieb den Kampf um die Seele der armenischen Republik einmal als die Antwort auf die folgende Frage: Wird sich die Republik "über den Völkermord und das Anti-Türkentum definieren oder zu einem normalen Staat entwickeln, der mit seinen Nachbarn in Frieden lebt und den Wohlstand und die Sicherheit seiner Bürger anstrebt"? Die folgenden Monate sind die richtige Zeit für eine Antwort auf diese Frage. Ter-Petrosjan drückte es so aus:

"Viele Völker und Staaten sind unter den verschiedensten Umständen und wegen unterschiedlicher Gründe an den Rand einer nationalen Katastrophe gelangt. Armenier und Juden waren Völkermord ausgesetzt. Deutschland und Japan haben verheerende Niederlagen erfahren und wurden völlig zerstört. Die osmanische Türkei, Britannien und Russland verloren ihre allmächtigen Reiche. Jede Nation glaubt an die Einzigartigkeit ihrer eigenen Tragödie … Dennoch haben nahezu alle diese Völker und Nationen, die eine nationale Tragödie erfuhren, diese Tragödie als ein Mittel zur Heilung und Stärkung genutzt, und nicht als Grund für Hoffnungslosigkeit und Unterlegenheit. Sie haben die innere Kraft gefunden, nicht nur, um ihre Wunden zu heilen und geschichtliche Komplexe abzuschütteln, sondern auch, um Aufschwung zu erleben und der Gemeinschaft der lebhaftesten und blühendsten Völker beizutreten. Was hindert uns daran, es diesen Völkern gleichzutun?"

VI. Anstelle einer Schlussfolgerung: das Licht des Ararat

Das Dorf Lusarat ist nur einen Steinwurf von der türkischen Grenze entfernt, aber es ist das erste Mal, dass Hayk einen Türken in sein Haus eingeladen hat. Lusarat, "das Licht des Ararats", liegt nahe Khor Virap, einer der berühmtesten Kirchen Armeniens, auf einem Hügel direkt an der Grenze. Hier wurde St. Gregor der Erleuchter 13 Jahre lang gefangen gehalten, bis er den armenischen König Trdat III. von einer Krankheit heilte und ihn zum Christentum konvertierte. So wurde Armenien im Jahre 301 die erste offiziell christliche Nation.

Khor Virap bietet neben einer Lektion in Geschichte auch einen Blick auf den Grüngürtel entlang des Flusses Aras und des Bergs Ararat auf der westlichen – türkischen – Seite der Grenze. An einem klaren Tag kann man sogar die Umrisse einer Fabrik, einer Moschee, eines fahrenden Autos ausmachen.

Trotz seines Namens ist Lusarat jedoch ein eher düsterer Ort. Zu Sowjetzeiten, als Lusarat eine Sondersicherheitszone an der Grenze zwischen der NATO und der Sowjetunion war, durften nur Ortsansässige das Dorf betreten. Heute ist es heruntergekommen, seine Häuser ähneln eher Hütten, die Schulen sind verfallen, zerbrochene Fenster und kaputte Blechdächer überall. Der Stacheldraht – der Grenzbereich – ist keine hundert Meter entfernt.

Hayk und seine Frau Lusine bieten ihrem türkischen Gast (eine ESI-Mitarbeiterin) selbst gemachten Käse, armenischen Kaffee und Eier an. Im Hintergrund läuft über Satellitenfernsehen ein türkisches Programm, in dem Experten über Ergenekon diskutieren. Die Familie diskutiert über die Türkei:

"Dink wurde nicht von diesem Jungen ermordet, sondern vom Staat. Wir haben ebenfalls dunkle Erfahrungen mit dem Staat. Sie wissen um den Angriff auf das Parlament 1999, oder? Wir fürchten den Staat hier."

Hayk findet es "wunderbar, dass so viele Menschen spontan auf die Straße gingen nach Dinks Ermordung." Lusine glaubt nicht, dass die Solidaritätsbekundungen ernst gemeint waren. Sie diskutieren eine Zeitlang, bis Hayk fortfährt:

"Mein Vater kam aus der Gegend Diyarbakir und Sprach Kurdisch. Er wurde nach Syrien deportiert und kam 1966 zurück nach Armenien. Meine Frau wurde in diesem Dorf geboren, ihre Familie stammt aber ursprünglich aus Muş, sie kamen 1923 über die Grenze.

Wir konnten uns immer über die Grenze hinweg unterhalten. Ich komme mit den Türken auf der anderen Seite klar. Sie sind anders als die Menschen, unter denen wir zu leiden hatten. Freilich werden wir die Geschichte niemals vergessen, aber wir sollten ein nachbarschaftliches Verhältnis mit einer offenen Grenze haben. Es gibt keinen Grund, warum wir nicht miteinander auskommen sollten.

Güls Besuch in Armenien war die erste wirklich gute Entwicklung. Die Einladung unseres Präsidenten wurde akzeptiert. Das hat uns sehr glücklich gemacht. Die Mehrheit von uns hat nicht geglaubt, dass er kommen würde. Alles geschieht aus einem Grund. Vielleicht wird der Fußball zu weiteren Ereignissen führen. Für uns ist die Grenzfrage viel entscheidender als für die wichtigen Leute in Jerewan. Einen Türken in unser Haus einzuladen lässt uns schon viel mehr erkennen als jeder andere. Viele Menschen besichtigen die Khor Virap-Kirche, aber niemand kommt in unser Dorf.

Was die Grenzöffnung angeht: Ich glaube erst daran, wenn ich es sehe. Natürlich will ich mir ansehen und dorthin gehen, wo unsere Vorfahren herkommen … welcher Armenier will das nicht? Ich träume davon, diesen Ort wenigstens einmal zu sehen. Erzählen Sie mir von Akdamar, falls Sie schon dort waren. Ich will Fisch aus dem Vansee essen.

Zu Sowjetzeiten habe ich in einer Fabrik gearbeitet. Es war wundervoll. Bildung und Krankenversicherung waren kostenlos und ich hatte einen festen Arbeitsplatz. Jetzt gibt es keine Fabriken mehr. Ich sitze seit sechs Monaten rum und tue fast nichts. Ich habe Land, das ich zur Jahreszeit beackere. Aber viel kann ich mit meinem Land nicht anfangen, weil ich kein Kapital habe, um es in Maschinen zu investieren. Wenn ich mir Geld leihen würde, könnte ich es vermutlich nicht zurückzahlen – und dann würde ich mein Land an die Bank verlieren. Deshalb gehe ich das Risiko nicht ein.

Gas, Strom und Wasser werden immer teurer. Das Essen ist hier viel billiger als in Jerewan, aber wir können es uns trotzdem nicht leisten. Geld zu verdienen ist schwer. Wenn uns unsere Verwandten im Ausland kein Geld schicken würden, könnten wir nicht überleben. Ich habe einen Bruder in Westeuropa. Mein ältester Sohn studiert und will Zahnarzt werden. Mein jüngster geht zur Schule.

Die Regierung erfüllt nicht ihre Pflichten. Sie nehmen nur von uns und geben nicht. Behandlungen im Krankenhaus müssen wir bezahlen. Manchen hier wurde das Land beschlagnahmt und an Regierungstreue gegeben. Die Korruption lohnt sich in so einem System. Die Ehrlichen verlieren ihre Arbeit. Wenn es nur eine Fabrik gäbe, wäre unser Leben wieder schön. Wir verlangen nicht viel.

Das Leben wäre viel besser gewesen, wenn es das Problem um Bergkarabach nicht gegeben hätte. Nach dem Krieg haben wir jahrelang gelitten. Es lebten Aseris in diesem Dorf, etwa 500, wir lebten friedlich zusammen. Heute leben noch insgesamt 1.100 Armenier hier. Als die Auseinandersetzungen unser Dorf erreichten, mussten die Aseris fliehen. Einer war sehr krank und konnte nicht fortgehen. Als er an meine Tür kam, nahm ich ihn auf. Mein Haus wurde umzingelt. Sie sagten, ich dürfe ihm nicht helfen. Ich brachte ihn ins Krankenhaus, aber sie wiesen ihn ab. Er starb in meinem Haus. Ich hatte die muslimischen Rituale nach dem Tod schon gesehen. Ich wusch ihn. Ich rief meinen Freund an, einen Priester. Wir begruben ihn so gut es ging nach den muslimischen Gebräuchen."

Nun füllten sich Hayks Augen mit Tränen. Es mag seltsam erscheinen, an einem solchen Ort von Versöhnung zu träumen. Und doch wird es im Wohnzimmer einer verarmten Familie in Lusarat möglich, sich eine andere Zukunft für den von Konflikten geplagten Kaukasus vorzustellen.