Montenegro: Deutschlands Balkanstipendien – Asyl und der Rozaje-Exodus

19 January 2016
Rozaje
Rozaje



This paper is part of the 12-part series "Return to Europe Revisited"
supported by ERSTE Foundation

 

Eine Reise nach Braunschweig

Im Mai 2015 verließen Halima, eine 43 Jahre alte Alleinerzieherin, ihre Schwester Emina (47), ihr Bruder Hajradin (55) und zwei ihrer Kinder (4 und 17) Montenegro. Sie reisten nicht als Touristen oder um Arbeit zu suchen, sondern um in Deutschland einen Antrag auf politisches Asyl zu stellen. Die Tatsache, dass 99,8 Prozent der montenegrinischen Anträge von Deutschland abgelehnt werden, hielt sie nicht ab; auch nicht die öffentliche Warnung der deutschen Botschafterin kurz vor ihrer Abreise: "Sie haben kein Recht, Asyl gewährt zu bekommen, und Sie werden viel verlieren." Sie folgten in den Fußstapfen von hunderttausenden mittellosen Menschen aus dem Westbalkan, die in den letzten Jahren die gleiche Reise machten. Hajradin verkaufte sogar eine Kuh und ein Kalb, um die Reisekosten zu bezahlen.

In der Provinzstadt Rozaje im Norden Montenegros, einem der ärmsten Gebiete des Landes, bestieg die kleine Gruppe einen Bus. Jede Woche gibt es viele Busse von hier nach Deutschland, manche direkt nach Hannover, ein bevorzugtes Reiseziel. Fahrkarten für die 30-Stunden Fahrt kosten etwa 120 Euro pro Person. Sie überquerten die EU-Grenze mit ihren biometrischen Pässen; seit 2009 brauchen montenegrinische Staatsbürger kein Visum mehr, um in die EU einzureisen. In Hannover stiegen sie um und gelangten in die Universitätsstadt Braunschweig. All das ohne Menschenschmuggler und ohne Betrug – völlig legal. In Deutschland kann jeder – sei er aus Syrien, Montenegro oder Polen – beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge einen Asylantrag stellen. Die Asylbewerber werden dann an eine Erstaufnahmeeinrichtung verwiesen. Eine offizielle Broschüre erklärt, was anschließend passiert: "Die Aufnahmeeinrichtung kümmert sich um die Unterbringung, versorgt [den Asylbewerber] und informiert die nächstgelegene Außenstelle des Bundesamts."

Im Jahr 2015 wurden viele Montenegriner direkt bei der Erstaufnahmeeinrichtung in Braunschweig vorstellig. Als eine NGO im Juni das Aufnahmezentrum besuchte, traf sie auf hunderte von Menschen aus dem Norden Montenegros. Dort haben auch Halima und ihre Verwandten ein Formular ausgefüllt. Sie machten ihre personenbezogenen Angaben und ließen sich Fingerabdrücke nehmen. Sie mussten damals keinen Asylgrund vorbringen (das geschah erst in einem Interview einige Wochen später, in dem sie auf ihre hoffnungslose wirtschaftliche Situation verwiesen). Sie verbrachten die ersten drei Tage im Erstaufnahmezentrum. Dann wurden sie in ein einfaches Hotel gebracht. Zwei Wochen später wurde ihnen ein Haus in einem Dorf in der Nähe von Bremen zugewiesen. Regelmäßig besuchte sie ein Sozialarbeiter, um nach ihnen zu sehen, und sie erhielten Fahrräder. Ende August wurde ihnen dann ein Haus mit zwei Stockwerken in einer kleinen Stadt zugeteilt, das sich näher an einem Kindergarten für Halimas Tochter befand. "Es ist mit modernen Haushaltsgeräten ausgestattet und hat sogar einen Garten", berichteten sie ihren Verwandten in ihrem Heimatdorf. Zusätzlich zu kostenfreier Unterkunft und Gesundheitsversorgung erhalten die fünf insgesamt 1.290 Euro an Unterstützung pro Monat. Das ist fünf Mal so viel wie ein monatliches Gehalt im Privatsektor in ihrer Heimatgemeinde. Die Unterstützung bedeutet ihnen noch viel mehr, denn in ihrem Dorf hat fast niemand Arbeit und viele Haushalte bekommen auch keine Sozialhilfe.

Abreise aus Montenegro

Niemand weiß genau wie viele tausend Menschen den Norden Montenegros in der ersten Jahreshälfte 2015 verlassen haben. Als NGOs vor Ort Anfang des Jahres Alarm schlugen, versuchten einige, die Familien zu zählen, die mit größerem Gepäck Busse nach Deutschland bestiegen. Die Regierung in Podgorica stritt zunächst ab, dass irgendetwas Ungewöhnliches vor sich ginge. In den Cafés in Montenegros Norden begann man, über den Exodus zu spekulieren. Einige erinnerten sich, wie die Osmanen in der Vergangenheit junge Knaben entführt hatten: war Deutschland daran interessiert, montenegrinische Kinder als moderne Janitscharen anzulocken? Andere vermuteten eine Verschwörung mit dem Ziel, das ethnische Gleichgewicht zu verändern, da die meisten Abwandernden Bosniaken (muslimische Slaven) waren.

Eigentlich ist es nicht schwierig zu verstehen, warum Menschen Rozaje, Halimas Gemeinde, verlassen wollen. Diese an Kosovo und Serbien angrenzende Bergregion kämpft seit Jahrzehnten mit wirtschaftlichem Niedergang. Die landwirtschaftlichen Grundstücke sind klein, und die Landwirtschaft – ohne Bewässerungssysteme und moderne Maschinen – dient nur der Selbstversorgung. Alle Fabriken aus kommunistischer Zeit wurden vor Jahren geschlossen. Halima, ihre Schwester und ihr Bruder arbeiteten in solchen Firmen in der Teppich- und Möbelherstellung, bis die Firmen Bankrott gingen. Sogar der Busverkehr, der ihr Dorf mit der Stadt Rozaje verband, wurde eingestellt. In den Dörfern bauen die Menschen Kartoffeln und Gemüse an und halten ein paar Kühe, Ziegen und Hühner. Nur fünf Einwohner aus Halimas Dorf haben eine reguläre Arbeit – drei als Lehrer und zwei bei der Gemeindeverwaltung. Keiner von Halimas engen Verwandten hat einen Job. Für Halimas Generation ist die Gegenwart trostlos, und die Zukunft noch trostloser. Die Mehrheit der Generation, die nach dem Kollaps des Kommunismus das arbeitsfähige Alter erreichte, hat nie reguläre Arbeit gefunden und wird keine Rente bekommen.

Durch die Stadt Rozaje fließt der Ibar, der flussabwärts im Kosovo die zwei Hälften der ethnisch geteilten Stadt Mitrovica voneinander trennt, gemächlich entlang von Industrieruinen. Die größte ist "Oberer Ibar", ein Holzverarbeitungsgigant aus kommunistischer Zeit, der einst tausende beschäftigte, dann massenhaft Arbeitsplätze abbauen musste und schließlich 2004 aufgrund von Missmanagement zusammenbrach. Der Privatsektor ist winzig. Der größte Arbeitgeber ist ein Supermarkt. Es gibt einen Fleischverarbeitungsbetrieb, einige kleinere holzverarbeitende Betriebe und eine Firma, die wilde Beeren und Pilze verkauft. Das lokale Museum zieht pro Jahr etwa 800 Besucher an, die dort historische Gewänder, Möbel und Waffen bewundern können. Heute gibt es 2.600 Arbeitsplätze für die 23.000 Einwohner der Gemeinde Rozaje. Die Hälfte davon sind im öffentlichen Bereich. Der finanzielle Spielraum der Gemeinde ist äußerst beschränkt: 2015 belief sich Rozajes Jahreshaushalt auf 200 Euro pro Einwohner – gerade Mal ein Zehntel des Pro-Kopf-Budgets in Budva, einer Stadt an der montenegrinischen Küste. Im Gemeindeamt an der Marschall-Tito-Straße erinnert sich der Gemeindesekretär für Wirtschaftsentwicklung wehmütig an den jugoslawischen Sozialismus: "Das war wie in den Vereinigten Staaten. Tito war ein einzigartiges politisches Genie, das im 20. Jahrhundert seinesgleichen sucht." Aber Tito, der das sozialistische Jugoslawien vom 2. Weltkrieg bis zu seinem Tod regierte, starb vor 35 Jahren. Für Rozaje bleibt heute nur die Nostalgie.

Sicher ist, dass die Menschen aus Montenegro nicht vor politischer Verfolgung flüchten. Das Land mit nur 620.000 Einwohnern besteht aus Minderheiten: Montenegrinern, Serben, Bosniaken, Albanern und Kroaten. Keine Gruppe hat eine absolute Mehrheit. Bosniaken machen rund ein Zehntel der Bevölkerung aus und sind politisch gut repräsentiert. Die Bosniakische Partei ist Mitglied der Regierungskoalition, und einer der Vizepremierminister ist ein Bosniake aus Rozaje. Montenegro verhandelt seit Juni 2012 über einen EU-Beitritt. Im Dezember 2015 wurde das Land eingeladen, der NATO beizutreten.

Und trotzdem haben im Jahr 2015 mehr als 4.000 Montenegriner in der EU um Asyl angesucht. Das ist Teil eines größeren Balkantrends. Die Zahl der Asylwerber aus den fünf Westbalkanländern, die seit 2009/2010 visumfrei in die EU reisen können, stieg von unter 10.000 im Jahr 2009 auf 125.000 im Jahr 2015. Ein stetig wachsender Teil dieser Menschen ging nach Deutschland: 14 Prozent im Jahr 2009, aber 85 Prozent im Jahr 2015. Unterdessen erhielten 2014 in der EU weniger als 4 Prozent aller Antragsteller aus dem Westbalkan internationalen Schutz. Die entsprechende Zahl war 94 Prozent für Syrer und 52 Prozent für Afghanen.

Die Zahl montenegrinischer Asylwerber ist gering, weil Montenegro selbst so klein ist. Trotzdem landete das winzige Land im Juni 2015 unter den Top-10 der Länder, deren Bürger in Deutschland um Asyl ansuchen.

Asylanträge von montenegrinischen Staatsbürgern 2008-2015

(Eurostat)

 

2008

2009

2010

2011

2012

2013

2014

2015

EU-28

275

270

405

635

1.260

945

1.845

> 4.000

Deutschland

55

95

95

125

395

380

1.270

3.635

Die wirkliche Überraschung

Wirklich überraschend daran ist, dass in Deutschland überhaupt jemand überrascht war; und dass deutsche Politiker das Problem missverstanden und jahrelang an offensichtlich nicht-funktionierenden Lösungsvorschlägen festhielten. Sobald die Welle von Asylwerbern aus dem Balkan Deutschland erreichte, behaupteten Politiker, dass das die Schuld der Regierungen der Balkanstaaten sei. Schon im Oktober 2010 warnte der Bayrische Innenminister Joachim Herrmann: "Diesen offenkundigen Missbrauch unseres Asylrechts werden wir nicht hinnehmen. Wenn sich diese Entwicklung fortsetzt, muss die Europäische Union handeln und die Visumspflicht für diese Länder wieder einführen." Einige gaben Menschenhändlern die Schuld und verwiesen als Erklärung auf organisierte Kriminalität. Die Europäische Kommission schlug vor, dass die Regierungen des Westbalkans gegen "Vermittler wie Reisebüros und Transportfirmen" ermitteln sollten. Das änderte natürlich nichts, weil diese Firmen ja nur ihrem legalen Geschäft nachgingen: Menschen mit gültigen Papieren in die EU zu befördern. Die EU setzte auch einen "Überwachungsmechanismus für die Zeit nach der Visaliberalisierung" in Kraft, der hauptsächlich Statistiken produzierte. Nichts von alldem machte einen Unterschied.

Eine zweite Erklärung für den Anstieg der Antragszahlen war "mangelndes Bewusstsein" über die niedrigen Chancen, in der EU Asyl zu erhalten. Deshalb wurden die Regierungen des Westbalkans angehalten, öffentliche Informationskampagnen über "die Rechte und Pflichten von visumfreiem Reisen" zu starten. Aber das Problem waren nicht fehlende Informationen. Im Gegenteil: je mehr Menschen von Erfahrungen wie der, die Halima gemacht hat, erfuhren, desto mehr waren versucht, es selbst zu versuchen; selbst wenn nicht alle einen so angenehmen Aufenthalt in Deutschland hatten wie sie.

Enes Falja (50), auch aus Rozaje, beschloss im Sommer 2015 nach Braunschweig zu reisen. Ein Arbeitsprojekt kam nicht zustande, er war arbeitslos, und montenegrinische Freunde sagten ihm, sie seien in Deutschland zufrieden. So stiegen er und seine Familie in einen Bus. Aufgrund des plötzlichen Anstiegs der Asylbewerberzahlen in Deutschland während des Sommers dauerte es aber deutlich länger, bis seiner Familie eine Unterkunft zugewiesen wurde. Die Wochen im Erstaufnahmezentrum waren von Angst gezeichnet – es gab Diebstahl, Gewalt, sogar einen Mord. Als der Familie schließlich ein nettes Haus im kleinen Jelmstorf zugewiesen wurde (4 Zimmer, 2 Badezimmer, vollständig eingerichtet), fanden sie auch kein Glück. Hier waren Abgeschiedenheit und Langeweile das Problem: sie waren die einzige ausländische Familie im Dorf, hatten wenig Kontakte, und das nächste Geschäft war fünf Kilometer entfernt. Die Einsamkeit trieb sie zur Rückkehr nach Montenegro – rechtzeitig zum Schulbeginn im September. Aufgrund der deutschen Unterstützung, so Enes, sei selbst seine Familie mit etwas Erspartem zurückgekehrt: "Niemand, der zurückkehrt, macht einen Verlust; selbst die nicht, die nur kurze Zeit bleiben."

Der wirkliche Grund, warum eine steigende Zahl von Asylwerbern aus dem Westbalkan in den letzten Jahren nach Deutschland ging, und nicht nach Österreich, Dänemark, in die Niederlande oder in die Schweiz, waren weder Kriminalität noch Illusionen, sondern die Tatsache, dass das deutsche Asylsystem großzügig war und selbst die Behandlung von offensichtlich unbegründeten Anträgen lange dauerte – im Jahr 2014 ungefähr fünf Monate für Asylwerber aus dem Westbalkan. Durch eine Berufung konnte die Länge des Verfahrens auf durchschnittlich 11 Monate ausgeweitet werden. Es war schon lange offensichtlich, was die deutschen Behörden tun mussten, um den Balkan-Exodus zu stoppen. Im Januar 2013 schrieb ESI, dass es "eine klare Lösung gibt … um es für die, die offensichtlich nicht asylberechtigt sind, weniger attraktiv zu machen, einen spekulativen oder vorgetäuschten Antrag zu stellen … Die Lösung dieser Krise ist offensichtlich. Die Dauer der Asylverfahren muss radikal verkürzt werden."

Im November 2014 erklärte Deutschland Serbien, Mazedonien und Bosnien zu sicheren Herkunftsländern. Dies wirkte sich aber nur auf die Fristen für Berufung und Ausreise nach einer negativen Entscheidung in der ersten Instanz aus. Antragsteller warteten immer noch mehrere Monate auf ihr Interview und dann nochmal auf die Entscheidung. Und sie kamen weiterhin. Als die deutschen Behörden es Ende 2012 für kurze Zeit geschafft hatten, durch das Vorziehen von Anträgen aus dem Balkan die durchschnittliche Länge der Antragsbearbeitung auf nur neun Tage zu reduzieren, fielen die Zahlen nach wenigen Wochen auf ein Sechstel. Die Lösung war klar: deutsche Behörden mussten einen Weg finden, die Anträge aus dem Balkan dauerhaft innerhalb von Tagen, anstatt von Monaten, zu entscheiden.

Einer von Deutschlands Nachbarn machte genau das schon 2012. In der Schweiz – kein EU-Mitglied, aber Teil des Schengen-Raums – dauerte das Asylverfahren für Antragssteller aus dem Balkan in erster Instanz auch ungefähr vier Monate. Und damals gab es in der Schweiz ebenfalls eine große Zahl an Asylwerbern aus dem Westbalkan. Doch im August 2012 führte das Schweizer Bundesamt (jetzt Staatssekretariat) für Migration "Besondere Maßnahmen bei Asylgesuchen aus verfolgungssicheren europäischen Staaten" ein. Asylwerber aus diesen Ländern werden in ein Aufnahmezentrum in Basel geschickt. Dort führt ein speziell dafür zusammengestelltes Team während der ersten zwei Tage ein vorläufiges Interview durch. Innerhalb der folgenden 48 Stunden führen die Behörden dann ein volles Interview durch und erlassen eine Entscheidung in erster Instanz. Ein abgewiesener Asylwerber hat fünf Tage Zeit, die Schweiz zu verlassen. Im Fall einer Berufung kommt das Bundesverwaltungsgericht in zwei bis vier Wochen zu einer Entscheidung. Sobald diese Maßnahmen umgesetzt waren, fiel die Zahl der Anträge dramatisch, von 780 im August auf 105 im Oktober 2012. Und die Zahlen sind seitdem niedrig geblieben. Im Jahr 2015 suchten weniger als 1.500 Staatsbürger der Westbalkanstaaten in der Schweiz um Asyl an.

Ein unwiderstehliches deutsches Angebot

Aus der Perspektive der armen Dorfbewohner und der arbeitslosen Städter auf dem Westbalkan war das deutsche Asylsystem das Äquivalent eines bezahlen Stipendiums: es ermöglichte einer Familie, völlig legal für eine Weile nach Deutschland zu ziehen und dort Geldleistungen in vielfacher Höhe des Familieneinkommens zu Hause plus gratis Wohnung, Gesundheitsversorgung, Deutschkurse und Schulbildung für die Kinder zu erhalten. Wenn man Glück hatte, wurde man in einem netten Haus untergebracht. Am Ende des Stipendiums kam man mit Ersparnissen nach Hause zurück. In Deutschland hatten auch abgelehnte Asylwerber Recht auf all diese Leistungen, selbst nach Ablauf der Ausreisefrist – bis zur Abschiebung (die nicht systematisch durchgeführt wurde). Für viele auf dem Westbalkan war das ein zu unwiderstehliches Angebot.

Abgelehnte Asylwerber in Deutschland

(rechtskräftig oder bestandskräftig abgelehnt)

Nationalität

2014 abgelehnte Asylbewerber

Ausgereist am Stichtag
30. Juni 2015

Noch in Deutschland
30. Juni 2015

Serbien

13.419

7.401

6.018 (45 %)

Mazedonien

  5.241

2.684

2.557 (49 %)

Bosnien

  4.086

2.461

1.625 (40 %)

Kosovo

  1.811

  732

1.079 (60 %)

Albanien

  1.657

  907

   750 (45 %)

2015 brachte einen neuen Rekord. In den ersten zehn Monaten des Jahres suchten 133.260 Staatsbürger der sechs Westbalkanstaaten in Deutschland um Asyl an. Das waren 36 Prozent aller Asylanträge in diesem Zeitraum.

Während das deutsche Asylsystem damit kämpfte, Rekordzahlen an Asylanträgen zu bewältigen, stieg in der zweiten Jahreshälfte 2015 der Druck auf ein kaum zu bewältigendes Ausmaß. Am 15. Oktober änderte der Deutsche Bundestag schließlich das Asylverfahren in dem Bestreben, Anträge aus dem Westbalkan weniger attraktiv zu machen. Montenegro, Albanien und Kosovo sind nun ebenfalls "sichere Herkunftsländer" wie Serbien, Mazedonien und Bosnien. Asylwerber aus all diesen Ländern müssen für die ganze Länge ihres Verfahrens in Erstaufnahmezentren bleiben. Die Erstaufnahmezentren sollen finanzielle Unterstützung durch Sachzuwendungen ersetzen. Abgewiesene Asylwerber sollen abgeschoben werden, wenn sie das Land nicht freiwillig verlassen. Abschiebungen müssen nicht mehr vorher angekündigt werden.

Die Auswirkungen dieser neuen Maßnahmen werden sich erst zeigen. Bislang bleiben Halima und ihre Verwandten in Deutschland und warten auf den Tag, der sicherlich kommen wird, an dem sie nach Rozaje zurückkehren müssen – in ein Leben ohne Einkommen; in eine Region, in der das beste Rettungsseil ein im Ausland arbeitender Verwandter ist; in ein Dorf, in dem ein Asylgesuch in Deutschland einer der wenigen Möglichkeiten war, zu entkommen und sich eine andere Zukunft vorstellen zu können … zumindest für ein paar Monate, im Haus eines Fremden in Niedersachsen.

Dieser Essay ist Teil des Projektes "Return to Europe Revisited", unterstützt von der ERSTE Stiftung. Nach der preisgekrönten 12-teiligen Dokumentarfilmserie "Balkanexpress" (2008/212) besuchen wir nun jedes von der Serie behandelte Land.