Geschlecht und Macht in der Türkei - Feminismus, Islam und die Stärkung der türkischen Demokratie
- CNN TURK, Mithat Bereket, Interview with Gerald Knaus and Nigar Göksel on feminism and Islam in Turkey (27 December 2007)
- Hürriyet, Sefa Kaplan "Türkiye'de kadın devrimi yaşanıyor" (26 December 2007)
- Radio Multikulti, Sevim Ercan "AKP’nin kadinlara yaklaşimi değişti mi?" (16 November 2007)
- EDAM, Nigar Göksel "Women and the changing face of Turkey" (Fall 2007)
- BBC Woman's hour "Turkish women's groups attack draft constitution" (Interview with Gerald Knaus) (19 October 2007)
- The New York Review of Books, Christopher de Bellaigue "Turkey at the Turning Point?" (27 September 2007)
- Zaman, Şahin Alpay "AKP ve kadınlar" (25 September 2007)
- SaudiDebate, Mona Eltahawy "Success of Turkey’s AK Party must not dilute worries over Arab Islamists" (4 September 2007)
- Prospect Magazine, Gerald Knaus (opinion) "Who will free Turkey's women?" (August 2007)
- Turkish Daily News, Mustafa Akyol "The sum of all secular fears — a sequel" (21 July 2007)
- Today's Zaman, Abdulhamıt Bılıcı "What will the Turkish electorate say at the polls?" (21 July 2007)
- Format, Gerald Knaus (guest commentary) "Es steht viel auf dem Spiel an diesem Wahltag" (July 2007)
- Liberazione "Le donne turche per la prima volta protagoniste" (21 July 2007)
- El Mundo, Fatima Ruiz "Las mujeres emprenden la revolucion turca" (21 July 2007)
- Svenska Dagbladet, Bitte Hammargren "AKP bakom kvinnoreformer" (20 July 2007)
- The Wall Street Journal, Matthew Kaminski "Turkish Test" (20 July 2007)
- DIE ZEIT, Michael Thumann "Anatolien schlägt zurück" (19 July 2007)
- BBC, Sarah Rainsford "Türk kadininin eşitlik için uzun yolu" (19 July 2007)
- BBC, Sarah Rainsford "Women’s equality is one of the central issues in Turkey’s July 22nd elections" (18 July 2007)
- BBC, Sarah Rainsford "Turkish women's long road to equality" (18 July 2007)
- Der Standard, Adelheid Wölfl "Auf dem Weg ins Post-Patriarchat" (14 July 2007)
- The Economist, "In search of the female voter" (12 July 2007)
- Bianet, "Kadınların İlerlemesi Kağıt Üzerinde Kaldı" (11 July 2007)
- Akşam, Mehveş Evin, "Türkiye'de seks ve güç" (10 July 2007)
- Akşam, "Kadın hakları en çok 2001'den sonra gelişti" (1 July 2007)
- Sabah, Soli Özel, "Cinsiyet ve iktidar" (24 June 2007)
- Dagens Nyheter, Henrik Berggren, "Gnosjö-islam" (21 June 2007)
- Falter, Katharina Knaus, "Türkische Mythen" (20 June 2007)
- Turkish Daily News, Reeta Çevik, "Gender equality given carrot and stick in ESI report" (18 June 2007)
- Today's Zaman, Sahin Alpay, "Sex and power in Turkey" (18 June 2007)
- Turkish Daily News, Mustafa Akyol, "Sex matters -II- (The tragedy of Kemalist feminism)" (16 June 2007)
- Turkish Daily News, Mustafa Akyol, "Sex matters-I- (Toward a post-patriarchal Turkey)" (14 June 2007)
- Süddeutsche Zeitung, Kai Strittmatter, "Die Frau als Besitz des Mannes" (2 June 2007)
Background information - Sex and power in Turkey
Turkish Policy Quarterly Vol 6, No. 1 (Spring 2007) "Women in Turkey: Prospects and Challenges"
"Richtet euren Blick in alle Welt, wir befinden uns am Vorabend einer Revolution. Doch seid versichert, diese Revolution wird weder blutig noch grausam wie die der Männer."
Fatma Nesibe, feministische Gelehrte, in Istanbul 1911
In der Geschichte der türkischen Republik gab es zwei Perioden, in denen der Status von Frauen grundlegende Verbesserungen erfuhr. Die erste in den frühen Jahren der Republik in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts, als Mustafa Kemal Atatürk die Polygamie verbot und islamische Gerichte zugunsten weltlicher Einrichtungen abschaffte. Diese erste Periode ist in der Türkei wohl bekannt und wird entsprechend gerühmt.
Die zweite grundlegende Reformperiode hält seit dem Jahr 2001 an. Reformen des türkischen Zivilrechts haben zur Gleichbehandlung von Frauen und Männern im Ehe-, Scheidungs- und Eigentumsrecht geführt. Ein neues Strafrecht behandelt die weibliche Sexualität zum ersten Mal als eine Angelegenheit individueller Rechte, statt als Frage der Familienehre. Zusätze zur türkischen Verfassung verpflichten den Staat, alle nötigen Mittel zur Gleichstellung der Geschlechter zu ergreifen. Es wurden Familiengerichte einberufen, Arbeitsgesetze geändert sowie Programme gegen häusliche Gewalt und für einen verbesserten Zugang zu Bildung für Mädchen geschaffen. Dies sind die radikalsten Veränderungen im rechtlichen Status türkischer Frauen seit 80 Jahren. Mit diesen Reformen hat die Türkei zum ersten Mal in ihrer Geschichte das rechtliche Regelwerk einer post-patriarchalen Gesellschaft.
Die Reformen der 20er Jahre wurden von einem autoritären Einparteienregime durchgeführt. Frauen erhielten das Wahlrecht zu einer Zeit als es keine freien Wahlen gab. Generationen türkischer Frauen wurden gelehrt, für Atatürks Geschenk der Freiheit und Gleichheit dankbar zu sein. Doch die rechtliche Ungleichheit von Mann und Frau bestand das ganze 20. Jahrhundert über fort, noch lange nachdem sie im Rest Europas abgeschafft war.
Die Reformen der letzten Jahre unterscheiden sich deutlich von denen der 20er Jahre. Sie waren das Ergebnis einer äußerst effektiven Kampagne einer breiten Frauenbewegung und führten zu einer umfassenden nationalen Debatte. Die gegenwärtige AKP-Regierung zeigte sich willens, konstruktiv mit zivilgesellschaftlichen Gruppen und der größten Oppositionspartei CHP zusammenzuarbeiten. Dieser offene und partizipatorische Prozess mündete im liberalsten Strafrecht der türkischen Geschichte. Er ist Sinnbild einer bedeutsamen Reifung der türkischen Demokratie.
Manche fürchten, die Türkei könnte ihrer säkularen Tradition den Rücken kehren. Einige der lautesten Wortmeldungen stammen von kemalistischen Frauen, die im Aufstieg des 'politischen Islams' eine unmittelbare Bedrohung der Rechte und Freiheiten türkischer Frauen sehen. Sogar Rufe nach einer Einschränkung der türkischen Demokratie zum Schutz von Frauenrechten wurden laut. Doch solch 'autoritärer Feminismus' hat jeden Bezug zu den tatsächlichen Gegebenheiten in der heutigen Türkei und den Errungenschaften der vergangenen Jahre verloren.
Die Türkei hat noch einen langen Weg zur Minderung der Kluft zwischen den Geschlechtern vor sich. In einer kürzlich veröffentlichten internationalen Vergleichsstudie belegte die Türkei den beschämenden 105. von 115 Plätzen – weit abgeschlagenen hinter dem am schlechtesten abschneidenden EU-Mitgliedstaat. Die Herstellung von mehr Gleichberechtigung wird die Auseinandersetzung mit einer Reihe tief verwurzelter Probleme erfordern, von verbessertem Zugang zu Bildung in ländlichen Gebieten bis zur Beseitigung institutioneller und gesellschaftlicher Barrieren, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Die Wahlen im Juli dieses Jahres sind ein Test für das Bekenntnis der politischen Parteien der Türkei, die Zahl weiblicher Abgeordneter erhöhen zu wollen.
Diese Themen verdienen es, im Zentrum der gegenwärtigen politischen Debatte in der Türkei zu stehen. Und nur in einer weiteren Stärkung und Fortentwicklung der türkischen Demokratie liegt der Schlüssel für eine wirkliche Befreiung der türkischen Frauen.
1911 hielt die osmanische Feministin Fatma Nesibe vor einer Gruppe von 300 Frauen aus Istanbuls Oberschicht eine Reihe von Vorlesungen. Unter Rückgriff auf John Stuart Mills Über die Unterwerfung der Frauen sprach sie über das neue Konzept der Frauenrechte und über die entstehende Frauenbewegung in den westlichen Ländern. Sie sah osmanische Frauen als unterdrückt an und stellte fest, dass "Recht, Tradition, Vergnügen, Genuss, Eigentum, Macht, Anerkennung, Schiedswesen … samt und sonders die Männer bevorzugen." Kühn sagte sie voraus, das Osmanische Reich befinde sich wie der Rest Europas am Vorabend einer "weiblichen Revolution".
Dies war ein optimistischer Ruf aus dem Herzen eines kurz vor dem Zusammenbruch stehenden Reiches. Die "längste Revolution" – wie eine Autorin die rechtliche und gesellschaftliche Emanzipation der Frauen nannte – hatte zu dieser Zeit gerade erst begonnen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren die meisten Gesellschaften patriarchal. Bis zur Heirat lebten Frauen unter der rechtlichen und moralischen Hoheit ihres Vaters, danach nahm der Ehemann diesen Platz ein. Das ab 1900 geltende deutsche Bürgerliche Gesetzbuch bestimmte, dass "dem Ehemann alle Entscheidungen des gemeinsamen Ehelebens obliegen". In Frankreich hatte die napoleonische Tradition ein bürgerliches Gesetzbuch hinterlassen, das den 'Gehorsam' der Frau gegenüber ihrem Ehemann forderte. Selbst in Schweden, das an der Spitze der weltweiten Bewegung für Gleichberechtigung stand, trat das erste explizit egalitäre Ehegesetz erst 1915 in Kraft. Zu dieser Zeit beruhte das osmanische Familienrecht auf dem traditionellen islamischen Recht (Scharia).
Ein Jahrhundert später hatte die von Fatma Nesibe vorausgesagte Revolution den Status von Frauen weltweit verändert. In Europa war das Verhältnis zwischen Männern und Frauen in eine neue historische Phase eingetreten, die der schwedische Soziologe Goran Therborn als "Post-Patriarchat" bezeichnet.
"Post-Patriarchat bedeutet die Unabhängigkeit von Erwachsenen von ihren Eltern und Gleichbehandlung im Familienrecht – nicht nur als verlautbarte, sondern als einklagbare Rechte. Dies ist ein grundlegender historischer Wandel, zuvor nahezu unbekannt oder gar praktiziert und, wie wir gerade gesehen haben, handelt es sich um einen erst kürzlich eingetretenen Wandel."
Doch am Ende des 20. Jahrhunderts verharrte die Türkei als einziges europäisches Land in der patriarchalen Tradition. Sowohl im Zivil- wie im Strafrecht waren türkische Frauen nicht gleichberechtigt. Der Ehemann galt als der formal anerkannte Haushaltsvorstand und das Strafrecht basierte auf dem Konzept der Familienehre, statt auf individuellen Rechten.
Die rechtliche Situation spiegelte die gesellschaftliche Realität: bei der Vorstellung eines Berichts zur Kluft zwischen den Geschlechtern ('gender gap') bei einem Treffen des Weltwirtschaftsforums in Istanbul im November 2006 brachte es die Türkei nur auf den 105. von 115 Plätzen, noch hinter Tunesien, Äthiopien und Algerien. Heute bleibt die Türkei in fast jedem Kriterium zur Messung der Gleichberechtigung hinter allen anderen europäischen Staaten zurück. Das Land hat den niedrigsten Frauenanteil unter Parlamentariern und unter der erwerbstätigen Bevölkerung und die höchste Analphabetenrate bei Frauen. Die Wahrnehmung, dass die Türkei in diesem äußerst sensiblen Feld aus dem europäischen Mainstream ausschert, ist zu einem zentralen Merkmal europäischer Debatten über den türkischen EU-Beitritt geworden. Sowohl in Frankreich als auch in Deutschland haben Gegner eines türkischen Beitritts dies zu einem Schlüsselargument ihrer Kampagne gemacht. Das Thema überschneidet sich auch mit Ängsten in den europäischen Ländern hinsichtlich der Integration ihrer eigenen muslimischen Minderheiten.
In den vergangenen 18 Monaten untersuchte ein Team von ESI-Analysten die sich wandelnde Lebenswirklichkeit türkischer Frauen. Wir sprachen mit Dutzenden türkischer Politiker, Aktivisten, Akademiker und Geschäftsleute. Unsere Recherchen führten uns von Frauenhäusern in den wohlhabenden Vierteln Istanbuls durch die wachsenden urbanen Zentren im türkischen Südosten bis zu Kleinstädten nahe der iranischen Grenze. Wir versuchten Antworten auf zwei Fragen zu finden: worin liegt die eigentliche Ursache für die gewaltige Kluft zwischen den Geschlechtern in der Türkei und was tun die politischen Akteure der Türkei, um diese zu schließen?
Wäre dieser Bericht 1999 verfasst worden, als die Türkei den Status eines Beitrittskandidaten erhielt, wären die Schlussfolgerungen zutiefst pessimistisch gewesen. Doch im Jahr 2007 änderte sich die Perspektive geradezu dramatisch. Die jüngsten Verfassungszusätze (2004) halten ausdrücklich fest, dass "Frauen und Männer gleiche Rechte haben", und dass "der Staat die Verantwortung trägt, alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um die Gleichheit zwischen Mann und Frau zu verwirklichen" (Artikel 10). Ein neues Zivilrecht (2001), Reformen des Arbeitsrechts (2003), die Schaffung von Familiengerichten (2003) und ein vollständig reformiertes Strafrecht (2004) haben den rechtlichen Status von Frauen grundlegend verändert. Dies sind die radikalsten Reformen seit Abschaffung der Polygamie in den 20er Jahren. Aufgrund dieser Reformen hat die Türkei zum ersten Mal in ihrer Geschichte das rechtliche Regelwerk einer post-patriarchalen Gesellschaft.
Diese Reformen spiegeln auch tiefgreifende Veränderungen der türkischen Demokratie wider. Die Reformen des Strafrechts wurden 2004 von einem Parlament verabschiedet, in dem die konservative Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) eine überwältigende Mehrheit hielt und nachdem Frauenorganisationen eine effektive und professionelle Kampagne geführt hatten. Zur Überraschung auch vieler Aktivistinnen zeigten sich die AKP-Parlamentarier willens, sich mit der Zivilgesellschaft auseinanderzusetzen und ihre Anliegen von Grund auf zu debattieren. Die türkischen Frauenorganisationen gingen daraus als einflussreiche politische Akteure hervor.
Gleichzeitig sollten diese wichtigen Gesetzesreformen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Kluft zwischen den Geschlechtern in der Türkei nach wie vor gewaltig ist. Dieser Bericht untersucht die tatsächlichen Unterschiede zwischen Männern und Frauen, inklusive ihrer wirtschaftlichen und regionalen Dimension. Er beschreibt mögliche Schritte, die nötig wären, um Fatma Nesibes weibliche Revolution letztendlich in die Türkei zu tragen. Die jüngsten Fortschritte legen nahe, dass die Türkei zu guter Letzt am Vorabend dieser weltweiten Revolution angelangt sein könnte.
Am 27. April 2007 gab das türkische Militär in Form einer nächtlichen Veröffentlichung auf seiner Website einen Warnschuss in Richtung der türkischen Demokratie ab. Der Generalstab erklärte seinen Widerstand gegen die Nominierung des derzeitigen Außenministers Abdullah Gül zum Präsidentschaftskandidaten. Er erinnerte die türkische Regierung an die Rolle des Militärs als "standhaften Verteidigers des Säkularismus'" und warnte, er werde seinen "Standpunkt und seine Haltung" deutlich machen, "wenn es notwendig wird".
In der Türkei werden solche Drohungen ernst genommen. Der Staatsstreich von 1960 endete mit der Hinrichtung des ersten frei gewählten Premierministers, des Außen- sowie des Finanzministers. Der Staatsstreich von 1971 "markierte den Beginn der Massenverhaftung der rebellischen Jugend." Im Zuge des Staatsstreichs von 1980 wurden 180.000 Menschen verhaftet, 42.000 verurteilt und 25 gehängt. Im jüngsten sogenannten "postmodernen Staatsstreich" von 1997 wurden politische Parteien verboten und gewählte Politiker auf Grund erfundener Anschuldigungen inhaftiert.
Auf das Ultimatum der Generäle folgte eine Reihe von Demonstrationen. Darunter eine der größten auf dem Caglayanplatz in Istanbul zur "Bewahrung des Säkularismus'". Fast alle Sprecher und Mitglieder des Organisationskomitees waren Frauen. Die Vizepräsidentin des nationalistischen "Vereins zur Förderung des Gedankenguts Atatürks", Nur Serter, bot den Generälen ihre Unterstützung an und sagte vor versammelter Menge, "wir stellen uns vor die glorreiche türkische Armee". Necla Arat, die Gründerin des ersten Frauenforschungsinstituts an der Universität Istanbul erklärte: "wir sind hier, um die säkulare Struktur der Türkei zu verteidigen, um diejenigen zu stoppen, die sie Schritt für Schritt ändern wollen." Türkan Saylan, die Präsidentin des "Vereins für das moderne Leben", warnte, dass die AKP-Regierung "nun an der Umwandlung von Cankaya (Sitz des Präsidenten] in einen Palast eines religiösen Ordens arbeitet." Die Schlagzeile der türkischen Tageszeitung Radikal lautete "Frauenpower". Nilufe Göle fragte sich, ob 2007 künftig als das Jahr des von einer Allianz aus "säkularen Frauen und Generälen" getragenen "weiblichen Staatsstreichs" erinnert werden würde.
Einem auswärtigen Beobachter mag dies als seine unwahrscheinliche Allianz erscheinen. Doch es ist nicht das erste Mal, dass sich kemalistische Frauenorganisationen mit dem Militär verbünden, um dem Aufstieg des "Islamismus'" entgegenzutreten.
Im offiziellen Diskurs des türkischen Staates führte Mustafa Kemal Atatürk die Emanzipation der Frauen im Alleingang von 1924 bis 1934 herbei und befreite die Türkei mit einem Schlag vom Einfluss des islamischen Rechts. Atatürks Reformen gewährten türkischen Frauen Gleichberechtigung lange vor anderen europäischen Nationen ohne das Erfordernis eines langwierigen Ringens. Für spätere Generationen türkischer Frauen, die nach diesen Grundsätzen im Rang von Glaubensartikeln erzogen wurden, war es immer eine zwingende Notwendigkeit, dieses Vermächtnis unter allen Umständen gegen die Gefahr eines wieder aufstrebenden Islams zu verteidigen – selbst auf Kosten der türkischen Demokratie.
Dieser "nationalistische Feminismus" wurde bewusst während der ersten Jahrzehnte der Republik geschaffen. Einer seiner zentralen Mythen ist das Bestehen eines goldenen Zeitalters der Gleichberechtigung im vorislamischen türkischen Zentralasien. So schrieb der Intellektuelle Ziya Gökalp (1876-1924), eine Schlüsselfigur des frühen türkischen Nationalismus:
"Die frühen Türken waren sowohl demokratisch als auch feministisch… Frauen wurden nicht zur Verschleierung gezwungen… Ein Mann konnte nur eine Ehefrau haben… Frauen konnten Herrscher, Befehlshaber einer Festung, Gouverneure oder Botschafter werden."
Laut Gökalp war es ausländischer Einfluss, der dieses vorislamische goldene Zeitalter beendete bis es letztlich von einem nationalistischen Führer wieder hergestellt wurde.
"Unter dem Einfluss der griechischen und persischen Zivilisation wurden Frauen versklavt und ihres rechtlichen Status' beraubt. War es nicht unerlässlich, sich der wundervollen Regeln der alten türkischen Überlieferung zu erinnern und sie wiederzubeleben, als das Ideal der türkischen Kultur geboren wurde?"
Diese Sichtweise wurde unter Anleitung der von Atatürk selbst gegründeten 'Gesellschaft zum Studium der türkischen Geschichte' zum Lehrsatz in türkischen Geschichtsbüchern erhoben. Atatürks Adoptivtochter Afet Inan schrieb Die Emanzipation der türkischen Frau. Darin verfolgte sie die türkische Geschichte bis zum Jahr 5000 v. Chr. zurück, was die Bekehrung zum Islam im achten Jahrhundert als ein Ereignis der jüngeren Geschichte erschienen ließ. Laut Inan stellte die kemalistische Revolution die wahren nationalen Traditionen der Türkei wieder her und befreite somit die Frauen von den Einschränkungen islamischer Normen und Werte. Die langjährige Vorsitzende der türkischen Vereinigung für Sozialwissenschaften Nermin Abadan-Unat wies darauf hin, dass "fast alle wichtigen Errungenschaften zum Vorteil türkischer Frauen eher gewährt als erkämpft wurden", und dass diese Gewährung von "einer kleinen männlichen revolutionären Elite" ausging. Erst nach vielen Jahren stellte eine neue Generation türkischer Historiker diese Sichtweise der frühen Republiksgeschichte in Frage.
Die junge türkische Republik war sehr stolz darauf, eine ausgewählte Gruppe von Vorreiterinnen im Bildungssystem und im öffentlichen Leben zu fördern. Die erste Ärztin (1926), Anwältin (1927), Richterin (1930) und Pilotin (1932) galten als Sinnbilder eines fortschrittlichen Säkularismus'. Der Kemalismus gerann für diese stolzen "Töchter der Republik" zum Feminismus, auch wenn seine Vorteile immer nur einer kleinen urbanen Elite zugute kamen. Der Staat gewährte 1934 den Frauen mit viel Aufhebens das Wahlrecht, auch wenn die Türkei zu dieser Zeit keine Demokratie war. Unabhängige Frauenorganisationen lösten sich 'freiwillig' auf, mit der Begründung, sie würden nicht länger gebraucht. Sie wurden von kemalistischen Organisationen ersetzt, die laut Sirin Tekel, einer prominenten türkischen Feministin
"geschaffen [wurden], um die persönlichen Interessen zu verteidigen, die auf den in der Einparteienära gewährten Rechten beruhen, und nicht, um diese in Gehalt und Reichweite zu vertiefen. Ihre Hauptaktivität war die Veröffentlichung von 'Kommuniques' an offiziellen Feiertagen, um die 'kemalistischen Reformen' zu bejubeln."
Manchen türkischen Kemalisten erscheint der Aufstieg des politischen Islams bis heute als die gefährlichste Bedrohung türkischer Frauen. In den späten 80er Jahren wurden Organisationen wie der 'Verein für das moderne Leben' (CYDD), der eine treibende Kraft bei den Demonstrationen von 2007 war, gegründet, um die Errungenschaften des Kemalismus' gegen das Wiedererstarken der Religion im öffentlichen Leben zu verteidigen. Laut der Präsidentin des CYDD, Türkan Saylan, ist die islamistische Gefahr niemals verschwunden: nachdem die Medressen (islamische Schulen) geschlossen waren, gingen die Islamisten einfach in den Untergrund. Als nach dem Zweiten Weltkrieg die Mehrparteiendemokratie eingeführt wurde, traten sie wieder in die Öffentlichkeit und begannen, das System offen anzugreifen.
Nach dem Wahlsieg der islamistischen Wohlfahrtspartei in den 90er Jahren erschien diese Gefahr umso dringlicher. Als der derzeitige Premierminister Recep Tayyip Erdogan 1994 zum Bürgermeister Istanbuls gewählt wurde, führte dies zu einer heftigen Gegenreaktion kemalistischer Kreise. Es kamen Gerüchte auf, Aktivisten der Wohlfahrtspartei schüchterten Bürger auf offener Straße ein. Die Tageszeitung Cumhuriyet schrieb, dass "islamistische Banden ihre Angriffe auf junge Mädchen und Frauen fortsetzten." Yael Navaro-Yashin schrieb 1994 über Istanbul:
"Zu dieser Zeit gab es in Istanbuler Büros und Privathaushalten eine Flut unterzeichneter und anonymer Faxe, die die Menschen dazu aufriefen, sich im Namen des Vermächtnisses des säkularen und modernen Führers Atatürk zu vereinen."
Doch es war die Unterstützung der arbeitenden Frauen, die Erdogan und seine Partei ins Amt beförderte; Cumhuriyet schrieb damals, "die treibende Kraft der Wohlfahrtspartei sind ihre Frauen". Doch dies konnte kemalistische Frauen kaum beruhigen. Die liberale Feministin Pinar Ilkkaracan drückte es so aus:
"Die säkularen/kemalistischen Feministinnen… nehmen die Aktivistinnen der islamischen Bewegung als ihre Feinde wahr oder reduzieren sie zu ignoranten Wesen."
Anfang 1998 wurde auf Grund einer Entscheidung des Verfassungsgerichts und auf Druck des vom Militär kontrollierten Nationalen Sicherheitsrats die Wohlfahrtspartei verboten und ihre Führer vorübergehend aus der Politik verbannt. Das Kopftuchverbot an Universitäten wurde verschärft. 1999 wurde Merve Kavakci, die in den USA Informatik studiert hatte, als Abgeordnete der Tugendpartei, der islamistischen Nachfolgerin der Wohlfahrtspartei, ins Parlament gewählt. Als sie im Kopftuch an ihrer ersten Parlamentssitzung teilnahm, war der Aufschrei gewaltig: "Terroristin", "Spionin" und "Provokateurin" lauteten nur einige der Anschuldigen gegen sie. Ein Kommentator in der Cumhuriyet schrieb:
"Eine politische Partei versucht, eine Religion, eine Scharia zu uns zu tragen, die nicht die unsere ist. Sie haben eine lebende Bombe in unsere Große Nationalversammlung geworfen. Dies ist ein Verbrechen gegen den Staat."
Ähnliche Argumente werden heute gegen die Möglichkeit eines türkischen Präsidenten hervorgebracht, dessen Frau ein Kopftuch trägt.
Ihre Furcht vor dem politischen Islam macht kemalistische Frauen merklich ambivalent in ihrer Unterstützung für die Mehrparteiendemokratie. Am Tag nach der Caglayan-Demonstration schrieb Zeyno Baran, eine türkische Wissenschaftlerin am konservativen Hudson Institut in Washington D.C., dass "die Frauen am meisten durch den Islamismus zu verlieren haben; es ist ihre Freiheit, die beschritten würde". Zur Rechtfertigung der Interventionsdrohung des Militärs bemerkte sie:
"Die Türkei existiert nicht in einem Vakuum; der Islamismus befindet sich überall im Aufwind… Wenn alle politischen Führer der Türkei denselben islamistischen Hintergrund haben, ist es unvermeidbar, dass sie – unbeschadet ihrer Fortschritte hin zum Säkularismus – wieder zurück zu ihren Wurzeln gezogen werden."
Folgt man Baran und anderen kemalistischen Frauen, hat sich an der hundertjährigen Konfrontation zwischen Säkularen und Islamisten wenig geändert. Die "Töchter der Republik" blicken zurück, fürchten die Mehrheit ihrer Landsleute und kokettieren weiterhin mit der Möglichkeit einer militärischen Intervention, um Atatürks Erbe zu bewahren.
Die offizielle Lesart der Frauenbefreiung in der Türkei, nämlich dass die Gleichheit mit einem Federstrich Atatürks gewährt wurde, "wofür türkische Frauen auf ewig dankbar sein sollten", erwies sich als bemerkenswert beharrlich und verschleierte eine vollkommen andere Wirklichkeit. Die bekannte Wissenschaftlerin Meltem Müftüler-Bac bemerkte 1999:
"Das scheinbar leuchtende Bild der Türkei als dem modernsten, demokratischsten und säkularsten muslimischen Staat, der auch noch die Frauenrechte sicherstellt, ist in mehrfacher Hinsicht irreführend. Ich bin jedoch der Ansicht, dass diese Wahrnehmung schädlicher als offene Unterdrückung ist, denn sie zieht der Frauenrechtsbewegung den Boden unter den Füßen weg, indem sie deren Überflüssigkeit suggeriert."
Es dauerte, bis sich die türkischen Frauenorganisationen in mehreren Schritten aus diesen Zwängen lösen konnten.
In der ersten Phase untersuchte in den 60er und 70er Jahren eine neue Generation von Soziologen die Lebenswirklichkeit türkischer Frauen. So beschrieb zum Beispiel die Soziologin Deniz Kandiyoti die sich abzeichnenden Veränderungen im Familienleben eines Dorfes nahe Ankara in den frühen 70er Jahren. Eine wachsende Zahl junger Männer verließ das Dorf, um eine Ausbildung zu erhalten und Arbeit zu suchen und schuf so eine neue soziale Mobilität. Doch jungen Frauen bot sich eine solche Möglichkeit nicht.
"Nach der kurzen Zeit als behütete Jungfrau nimmt die Frischverheiratete im Dorf ihren Platz im neuen Haushalt ein, wobei sie allen Männern und älteren Frauen unterworfen ist… So wie die Dinge stehen, lässt sich getrost festhalten, dass sich die Geschlechter- und vor allem die Eherollen kaum jemals ändern werden."
Als die Soziologin Yakin Ertürk 1976 Dörfer rund um Mardin in Südostanatolien untersuchte, fand sie eine strikt hierarchische Gesellschaft vor, in der Entscheidungen allein den Männern vorbehalten waren. Die Tradition des Brautpreises verfestigte den Status von Frauen als Eigentum ihrer Väter und später ihrer Männer. Selbst das gesetzlich verbriefte Recht auf Bildung hatte für die Dorffrauen kaum eine Bedeutung.
"Die östlichen Regionen bleiben unterentwickelt… Mädchen aus den Dörfern haben im Allgemeinen so gut wie keinen Zugang zu einer Fachausbildung oder zu schulischer Bildung von nennenswertem Gehalt. Obwohl eine elementare Bildung für Mädchen und Jungen verpflichtend ist, ist die Verfügbarkeit von Bildung in dieser Region noch sehr jungen Datums. In Yoncali und Senyurt wurden Schulen erstmals 1958 bzw. 1962 eröffnet."
Forschungsarbeiten dieser Art förderten die schlichte Wahrheit zutage, dass die Reformen der 20er Jahre kaum eine Wirkung jenseits einer kleinen urbanen Elite entfaltet hatten. 1975 konnte mehr als die Hälfte der türkischen Frauen weder lesen noch schreiben. Die meisten wurden vor Erreichen des 17. Lebensjahrs verheiratet. Obwohl Frauen unbezahlte Arbeit in der Landwirtschaft leisteten, betrug ihr Anteil an der städtischen werktätigen Bevölkerung weniger als 10 Prozent.
Angesichts der harten Lebensumstände der meisten Frauen interpretierten viele türkische Wissenschaftler das Problem als ein Zusammentreffen eines fortschrittlichen Rechtssystems mit einer patriarchalen Gesellschaft. Das Problem wurde als ländliche Rückständigkeit und Beständigkeit islamischer Kultur und Werte definiert. Türkische Feministinnen sagten damals, türkische Frauen seien zwar emanzipiert, doch noch nicht befreit.
Erst in den 80er Jahren begannen türkische Feministinnen, radikalere Fragen zu stellen. Die Wissenschaftlerin Sirin Tekeli, die ihre Lehrstelle aus Protest gegen die Säuberungen und politischen Beschränkungen aufgab, von denen die türkischen Universitäten im Gefolge des Staatsstreichs von 1980 betroffen waren, wurde zur Stimme einer neuen Generation liberaler Feministinnen, die, wie sie es ausdrückte, "sich schließlich entschlossen hatten, ihren eigenen Lebensbedingungen mehr Beachtung zu schenken". In ihren Schriften wies Tekeli auf das Paradox zwischen dem Klischee der türkischen Frauenbefreiung und der tatsächlichen Nicht-Beteiligung von Frauen am politischen Prozess hin. Bis 1980 gab es nur zwei Ministerinnen. Bis 1991 gab es keine Provinzgouverneurin. Tekeli und ihre Kolleginnen erkannten, dass das Problem nicht nur in der Rückständigkeit der ländlichen Gesellschaft lag, sondern auch in den Gesetzen selbst. Die rechtliche Emanzipation erwies sich als sehr begrenzt und diese Wirklichkeit war lange von der offiziellen Ideologie übertüncht worden.
"Die Generation unserer Mütter identifizierte sich in erster Linie mit dem Kemalismus und nicht mit dem Feminismus, weil sie einige wichtige Rechte und neue Möglichkeiten erhielten und weil sie dazu gezwungen wurden. Den patriarchalen Charakter des Zivilrechts, das den Ehemann als Oberhaupt der Familie festschrieb, stellten sie niemals in Frage."
Als liberale Feministinnen ihre Aufmerksamkeit der Familie als Quelle patriarchaler Werte zuwandten, erkannten sie, dass das Recht solche Werte schon auf der einfachsten Stufe zur Grundlage von Gesetzen machte. Wenn Ehemänner und Ehefrauen vor dem Gesetz angeblich gleich waren, weshalb benötigten Frauen zur Aufnahme einer Arbeit dann die Zustimmung ihres Ehemannes? Weshalb behandelte das Strafrecht außerehelichen Geschlechtsverkehr bei Frauen anders als bei Männern?
Mit dem 1979 in Kraft getretenen und 1985 von der Türkei ratifizierten UN Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) traten die Defizite des türkischen Rechts überdeutlich zutage. Durch die Konvention sind alle Signatarstaaten gebunden, das Prinzip der Gleichberechtigung in nationales Recht umzusetzen und alle Formen der Diskriminierung zu verbieten. Da das türkische Zivilrecht diese Prinzipien in vielen Punkten verletzte, sah sich die Türkei zu beschämenden Vorbehalten gegen die Bestimmungen der Konvention gezwungen. Sie sah sich außerstande, Männern und Frauen gleiche Rechte und Verantwortung im Ehe-, Scheidungs-, Eigentums- und Arbeitsrecht zu garantieren.
Politisch gesehen führte das CEDAW zu einem tiefgreifenden Perspektivwechsel. Der Maßstab, an dem das türkische Recht gemessen wurde, war nicht länger die osmanische Vergangenheit oder die Scharia, sondern zeitgenössische internationale Standards. Durch die Betonung der Unzulänglichkeiten des Zivilrechts von 1926 gaben die türkischen Vorbehalte gegen CEDAW der türkischen Frauenbewegung eine klare Reformagenda – auch wenn deren Mühen erst nach weiteren 17 Jahren Früchte tragen sollten.
Kampagnen von Frauenrechtsaktivistinnen zur Reform des Zivilrechts in den 80er Jahren verliefen angesichts der Gleichgültigkeit des politischen Establishments im Sand. Erst bei der Weltfrauenkonferenz in Peking 1995 verpflichtete sich die Türkei zur Rücknahme ihrer Vorbehalte gegenüber dem CEDAW. Sie tat dies 1999, jedoch ohne ihr Zivilrecht reformiert zu haben. Ab dieser Zeit übte die EU mit ihren jährlichen Fortschrittsberichten, die die Notwendigkeit betonten, das Zivilrecht mit den CEDAW-Anforderungen in Einklang zu bringen, zusätzlichen Einfluss auf diesen Prozess aus.
In den 90er Jahren setzten Frauenorganisationen ihre Kampagnen fort und wandten zunehmend ausgefeilte Techniken an. Es wurde ein spezieller Nachrichtenverteiler (Kadin Kurultayi) für Aktivisten eingerichtet und 126 Frauen-NGOs aus der ganzen Türkei schlossen sich für eine nationale Kampagne zusammen. Frauengruppen betrieben intensive Lobbyarbeit im Parlament. Am 22. November 2001 wurde schließlich das neue türkische Zivilrecht verabschiedet.
Dies bedeutete eine grundlegende Änderung der rechtlichen Grundlagen des Geschlechterverhältnisses und der Familie. Eheleute wurden zu gleichen Partnern mit demselben Entscheidungsrecht und denselben Rechten an den Kindern und dem während der Ehe erworbenen Eigentum. Das neue Recht beseitigt das Konzept 'unehelicher Kinder' und spricht das Sorgerecht für außerehelich geborene Kinder deren Müttern zu. In den Worten von Justizminister Hikmet Sami Türk (DSP)
"[Es] ist eine der wichtigsten Besonderheiten dieses Gesetzesentwurfes, dass er die Gleichheit in allen Bereichen betont. Nach diesem Entwurf gibt es in einer Ehe keinen Familienvorstand mehr. Ehepartner haben dieselben Rechte und Pflichten und nehmen dieselbe Verantwortung wahr. Beide sind für die Erziehung der Kinder verantwortlich."
Mit diesen Reformen hatte die Türkei einen bedeutenden Schritt unternommen, um zur post-patriarchalen Welt aufzuschließen. Es war auch ein wichtiger Erfolg für die türkische Frauenbewegung, die in den frühen 80er Jahren mit kleinen Gruppen städtischer Frauen, die sich in Istanbuler Wohnungen trafen, begonnen hatte. Nun hatte sich die türkische Frauenbewegung zu einem ernstzunehmenden Faktor der Innenpolitik entwickelt.
Zwei demographische Trends hatten einen nachhaltigen Einfluss auf das Leben türkischer Frauen: die Urbanisierung und ein nachlassendes Bevölkerungswachstum. 1945 lebte nur ein Viertel aller Türken in Städten; im Jahr 2000 lag dieser Anteil bei 65 Prozent. Frauen lebten zunehmend in Städten, wo sie besseren Zugang zu Bildung und anderen Einflüssen der Moderne hatten. Die Alphabetisierungsrate bei Frauen sprang von 14 Prozent im Jahr 1945 auf 81 Prozent im Jahr 2000. Und da die Zahl der Geburten pro Frau abnahm und somit weniger Kinder versorgt werden mussten, begannen Frauen sich zunehmend für die Welt außerhalb ihres Haushalts zu interessieren.
Jahr |
Bevölkerung (Mio) |
Urbanisierung |
Frauenalphabetisierung |
1945 |
18,8 |
25 % |
13% |
1960 |
27,8 |
32 % |
25 % |
1980 |
44,7 |
44 % |
55 % |
2000 |
67,8 |
65 % |
81 % |
Diese demographischen Veränderungen brachten neue gesellschaftliche Gruppierungen hervor. Die städtische Bevölkerung der Türkei nahm zwischen 1985 und 2000 um mehr als das Doppelte zu, was einen absoluten Zuwachs von 24,4 Millionen Menschen bedeutete. Neue und schnell wachsende Vororte entstanden an den Rändern Istanbuls, Ankaras und anderer Großstädte. Dort lebten Menschen, die aus ihren Dörfern nur wenige Fertigkeiten und eine deutlich konservative und religiöse Einstellung mitbrachten. Doch sie strebten auch nach Bildung und genossen mehr soziale Mobilität als jene, die in den Dörfern geblieben waren. Diese neue städtische Klasse bildete die soziale Basis für den Aufstieg des politischen Islams und den Wahlerfolg der islamistischen Wohlfahrtspartei. Frauen spielten in diesem Wandel der türkischen Politik eine Schlüsselrolle.
Der Istanbuler Vorort Ümraniye ist eines der am schnellsten wachsenden städtischen Gebiete des Landes. Die amerikanische Anthropologin Jenny B. White führte dort in den 90er Jahren Studien durch und schildert die Hin- und Hergerissenheit der Frauen, die die vielen Einschränkungen ihres Lebens gleichzeitig ablehnten und akzeptierten. Eines der vielen Gespräche, von denen sie berichtete, handelte von der Bewegungsfreiheit von Frauen.
"Eine Frau, deren Gesicht von ihrem Kopftuch in Schatten gehüllt und im diffusen Licht nur unklar zu erkennen war, sagte: "Es ist schwer, die ganze Zeit alleine zu Hause zu sein." Eine andere fügte wehmütig hinzu "wenn ich doch nur irgendwohin reisen könnte." Die Frauen schwächten ihre Klagen sofort wieder ab und fügten bestimmt hinzu, es gehöre sich für Frauen, zu Hause zu bleiben. Sie waren sich einig, dass schutzlose Frauen in ihren Bewegungen einschränkt sein sollten. "Man weiß nie, was passieren kann". Sie diskutierten die Aussagen des Korans zu diesem Thema, wobei eine Frau darauf hinwies, dass die Macht der Männer den Grad dieser Einschränkungen bestimmte und nicht der Koran.
Mehrere Frauen sagten, dass sie gerne arbeiten möchten, doch dass ihre Männer es nicht erlaubten. Im Laufe der Unterhaltung wuchs die Unzufriedenheit.
"'Die Männer machen unser Leben schwer'. 'Ich wünschte, wir hätten mehr Bildung.' Ich wünschte, ich könnte arbeiten und etwas Geld zu verdienen. Es ist schwer, sich darauf verlassen zu müssen, dass dein Mann jeden Tag Geld für dich da lässt. Manchmal vergisst er es; was tust du dann?'"
Es ist einer der größten Widersprüche der türkischen Politik, dass erst eine islamistische Partei neue Möglichkeiten für Frauen in Gegenden wie Ümraniye eröffnete. Mitte der 90er Jahre entwickelte die Wohlfahrtspartei einen sehr aktiven Frauenflügel. Die Idee, Frauen innerhalb der Parteiorganisation zu mobilisieren, war eng mit dem derzeitigen Premierminister Erdogan verknüpft, der damals Vorsitzender der Wohlfahrtspartei in Istanbul war.
"Keine andere türkische Partei konnte eine vergleichbare Zahl an weiblichen Mitgliedern vorweisen. Binnen sechs Jahren waren fast eine Million Frauen Mitglieder geworden… Die Frauenorganisationen der Partei waren vielleicht der dynamischste Teil der Partei, vertreten bei allen Kundgebungen, Treffen und Aktionen."
In Ümraniye waren fast die Hälfte der 50.000 registrierten Parteimitglieder Frauen. Politischer Aktivismus für die Wohlfahrtspartei bot Frauen ein neues Betätigungsfeld – die Chance auf eine praktische Ausbildung, Arbeit außerhalb der Familie und eine Stimme in öffentlichen Angelegenheiten. 1999 sprach Yesim Arat mit 25 freiwilligen Helferinnen der Wohlfahrtspartei. Sie war "verblüfft über die uneingeschränkte Erfüllung, die diese Aktivistinnen aus ihrer politischen Arbeit zogen. Ohne Ausnahme blickten alle interviewten Frauen mit Freude auf diese Zeit zurück." Eine Aktivistin sagte Arat: "wir alle haben etwas bewiesen; wir haben an Status gewonnen."
Doch das Wahlprogramm der Wohlfahrtspartei betonte weiterhin, dass der Platz der Frau zu Hause bei ihrer Familie sei. Als der Partei 1991 das erste Mal der Sprung ins Nationalparlament gelang, war keine einzige Frau unter ihren 62 Abgeordneten. 1995 war sie mit 158 Abgeordneten die stärkste Partei im Parlament, doch noch immer ohne jede Frau. Der innerparteiliche Diskurs über Frauen blieb zutiefst konservativ. So gab es 1997 in der Parteispitze eine Debatte darüber, ob es angemessen sei, einer Frau die Hand zu schütteln. Viele Parteiführer vertraten die Ansicht, dass sich Frauenfragen am besten zu einer Rückkehr zur asri saadet, dem 'Zeitalter der Glückseligkeit' lösen ließen, das heißt nach den Regeln und Sitten aus der Zeit des Propheten und seiner unmittelbaren Nachfolger. Jenny B. White kommentiert die Unterschiede in den Bestrebungen von Männern und Frauen in der Partei so:
"Die Frauen waren an den Mitteln interessiert, mit denen es ihnen die islamistische Bewegung ermöglichte, den Status Quo zu ändern; die Männer hatten ein Ideal vor Augen, in dem Frauen Ehefrauen, Mütter und Hausfrauen waren."
Unterschiedliche Ansichten zur tesettür, das heißt zur islamischen Bekleidung (Kopftuch und Übermantel) stehen geradezu sinnbildlich für diese Spannung. Islamistische Männer erachteten das Kopftuch als notwendig, um Frauen und die Familienehre zu schützen, indem es fitne und fesad (das Chaos unkontrollierter weiblicher Sexualität) im Zaum hielt. Doch für ehrgeizige religiöse Frauen bedeutete das Kopftuch Mobilität und Unabhängigkeit.
Ende der 80er Jahre entbrannte unter religiösen Frauen eine lebhafte Debatte. Artikel in der Tageszeitung Zaman machten den Anfang. Darin verteidigten Frauen ein zunehmend mutiges Reformprogramm. So schrieb eine Frau 1987:
"Warum fürchten muslimische Männer gebildete Frauen? Weil es einfach ist, Macht über Frauen auszuüben, die nichts anderes tun, als sich um ihre Männer zu kümmern, die von der Außenwelt isoliert sind und ihre Männer vergöttern. Wenn Frauen Bildung erfahren, sich ihrer selbst bewusst werden und ihr Umfeld kritisch sehen, flößen sie Männern Furcht ein."
Ab Mitte der 90er Jahre schlossen sich religiöse Frauen zu Vereinigungen zusammen, um spezifische Interessen zu verfolgen, darunter die Plattform der Hauptstadt-Frauen, die Regenbogen Plattform und die Organisation für Frauenrechte gegen Diskriminierung (AKDER). Selime Sancar von der Regenbogen Plattform erklärte ihre Haltung so:
"Wir sind eine Synthese; die Säkularen müssen wissen, dass ihre Großmütter den hijab getragen haben und die Islamisten dürfen nicht vergessen, dass ein Teil der Türkei in Europa liegt, und dass das Land verwestlicht wurde, seit die Sultane die ersten Europäer hierher brachten."
Liberale Feministinnen wiesen auf den inneren Widerspruch des Aktivismus' islamischer Frauen hin. So schrieb Sirin Tekeli 1992:
"Der unerwartetste Einfluss der feministischen Bewegung war der auf fundamentalistische islamische Frauen. Zwar lehnten sie den Feminismus im Wesentlichen ab, weil feministische Ideen von den materialistischen Werten der westlichen Welt geprägt waren, doch tatsächlich handelten viele von ihnen in feministischer Weise, als sie um Zugang zu den Universitäten kämpften, um einen Platz als gebildete Frauen in der Gesellschaft zu erringen, ohne ihre im Schleier manifestierte Identität aufgeben zu müssen."
Religiöse Feministinnen gewannen das Selbstvertrauen, islamistisches Denken von Grund auf in Frage zu stellen. Die Theologin Hidayet Tuksal lehrt an der theologischen Fakultät der Universität Ankara, trägt das Kopftuch und ist Begründerin der Hauptstadt Frauen-Plattform. Sie vertritt die Ansicht, dass "Religion geschichtlich von unterschiedlichen Menschen unterschiedlich ausgelegt wurde, was zu männlich dominierten Auslegungen führte". Ihre Plattform hat es sich zur Aufgabe gemacht, die religiöse Fundierung der Diskriminierung von Frauen in Frage zu stellen. Sie gab neuen Ansichten unter Frauen und jungen Menschen eine Stimme. Laut Tuksal "wandten sich Konservative vor 20 Jahren dagegen, dass Frauen arbeiten. Sogar eine universitäre Ausbildung galt als verächtlich." Doch ein Zusammenspiel aus wirtschaftlicher Notwendigkeit und das Verlangen nach sozialer Mobilität untergrub diese traditionellen Werte. "Arbeit wird nicht länger thematisiert. Bis zu 90 Prozent der jungen Männer in unseren Kreisen möchten mittlerweile eine arbeitende Frau heiraten."
Im Jahr 2001 spaltete sich die Tugendpartei (die Nachfolgerin der islamistischen Wohlfahrtspartei) in zwei neue Parteien. Die so entstandene Partei der Glückseligkeit hielt in ihrem offiziellen Parteiprogramm explizit fest, die größte Gefahr für die türkische Gesellschaft sei ausländischen Ursprungs.
"In den letzten Jahren wurden unsere Familien in einer bisher nicht gesehenen Geschwindigkeit zerstört… Es müssen Vorkehrungen getroffen werden, um unsere Nation und unsere Gesellschaftsstruktur vor dem Gift der Kernfamilie zu bewahren, das ausländische Mächte uns über die Medien und Filme einzuflößen versuchen."
Die zweite Parteineugründung, die AKP, gab sich ein auffallend anderes Parteiprogramm. Von Beginn an grenzte sie sich in zwei wesentlichen Punkten von den traditionellen Islamisten ab: Europäische Integration und die Stellung von Frauen in der türkischen Gesellschaft. Das Parteiprogramm der AKP setzte sich grundsätzlich andere Ziele und verpflichtete die Partei zur Erfüllung aller Erfordernisse des CEDAW. Zu seinen Versprechungen zählen die Unterstützung von Frauen bei der Teilnahme am öffentlichen Leben und bei der aktiven Teilnahme an der Politik, die Aufhebung diskriminierender Bestimmungen in Gesetzen, die Zusammenarbeit mit Frauen-NGOs und die "Verbesserung der sozialen Wohlfahrt und der Arbeitsbedingungen mit Blick auf die Bedürfnisse arbeitender Frauen".
Als das neue Zivilrecht 2001 zum ersten Mal im Parlament gelesen wurde, traf es auf entschiedenen Widerstand der Partei der Glückseligkeit. In einer Rede vor dem Parlament sagte einer ihrer Abgeordneten:
"Es ist offensichtlich, dass jede Gemeinschaft ein Oberhaupt benötigt. Ohne Oberhaupt herrscht Anarchie. Diese Reform wird die Familie nicht stärken, sondern schwächen. Der Mann ist das Oberhaupt der Ehe."
Die neu entstandene AKP vertrat einen anderen Standpunkt. Der AKP-Abgeordnete Mehmet Ali Sahin sprach sich für das neue Zivilrecht aus. Sein Haupteinwand war das von Frauenorganisationen aufgebrachte Problem der nicht rückwirkenden Anwendung von Regeln über die gleiche Aufteilung von Vermögenswerten nach einer Scheidung. Sahin schlug vor, die neue vermögensrechtliche Regelung solle auch auf vor 2002 verheiratete Paare Anwendung finden, falls diese nicht ausdrücklich widersprächen. Frauenaktivistinnen sagten gegenüber ESI, sie seien damals über diese Unterstützung sehr erstaunt gewesen.
Die AKP distanzierte sich deutlich von traditionellen Islamisten. 2001 hatte sie 71 Gründungsmitglieder, von denen zwölf Frauen waren (sechs davon mit Kopftuch). Ihr offizielles Parteiprogramm vermied direkte Bezüge zum Islam, sondern bekundete das Festhalten an den säkularen Traditionen der Türkei verstanden als "die Neutralität des Staates gegenüber jeglichem religiösen oder philosophischen Bekenntnis."
Natürlich waren mehr als nur schöne Worte nötig, um die Skeptiker zu überzeugen. Viele Säkulare in der Türkei stehen der AKP und ihren Absichten gegenüber weiterhin zutiefst skeptisch gegenüber. Wie kann eine Partei mit einer Wählerschaft aus dem konservativen Kernland Zentralanatoliens oder aus Istanbuler Vororten wie Ümraniye sich ernsthaft der Gleichberechtigung verschrieben haben? Doch was folgte war eine der radikalsten Änderungen des rechtlichen Status' von Frauen in der Geschichte der modernen Türkei.
Das türkische Strafrecht, das von 1926 bis 2004 in Kraft war, war das bestechendste Beispiel für die Diskrepanz zwischen Rhetorik und Realität in der Türkei. Wie viele der zur Zeit Atatürks verabschiedeten Gesetze fußte es auf einem westeuropäischen Vorbild – in diesem Fall dem italienischen Strafgesetz von 1889. Dieses wurde dann den türkischen Werten und Traditionen angepasst.
In seinen Bestimmungen zu Sexualverbrechen brachte das Strafrecht von 1926 die Überzeugung zum Ausdruck, der Körper der Frau sei der Besitz des Mannes und Sexualverbrechen gegen Frauen seien daher Verbrechen gegen die Familienehre. Es war voll von traditionellen aus dem Arabischen übernommenen Konzepten: irz (Ehre oder Reinheit), haya (Schande), ar (schamvolle Dinge). Es behandelte die weibliche Sexualität als eine von der Gesellschaft zu kontrollierende Bedrohung.
"Der für Vergewaltigung verwandte Ausdruck ist irza gecmek (Eindringen in die Ehre) statt des üblicherweise im Türkischen verwandten Wortes tecavüz (Verletzung, Angriff). Die Verwendung des Wortes irza gecmek für Vergewaltigung impliziert, dass das Strafrecht Vergewaltigung in erster Linie als Ehrverletzung versteht und nicht als ein Verbrechen gegen die körperliche Unversehrtheit des Individuums."
Die Sichtweise von Vergewaltigung als Frage der Ehre hatte eine Reihe von Konsequenzen. Erstens entkriminalisierte sie die Vergewaltigung in der Ehe: sexuelle Akte im ehelichen Rahmen, selbst wenn sie gewaltsam waren, konnten nicht als Verletzung der Ehre einer Frau angesehen werden. Zweitens bot diese Sichtweise einem Vergewaltiger die Möglichkeit, der Strafverfolgung zu entgehen, wenn er anbot, sein Opfer zu heiraten und somit ihre Ehre wiederherzustellen. Selbst wenn eine Frau von mehreren Männern vergewaltigt wurde, galt das Heiratsangebot von einem einzigen als ausreichend, um die Anklagen gegen alle Beteiligten fallen zu lassen.
Das Strafrecht war auch gegenüber 'Ehrverbrechen', das heißt zur Wiederherstellung der Familienehre verübten Verbrechen, äußerst nachsichtig. Eine Bestimmung gewährte den Tätern einen Nachlass von sieben Achteln der Strafe, wenn ihre Opfer beim Ehebruch oder bei "unrechtlichen sexuellen Beziehungen" ertappt worden waren (bei Frauen einschließlich vorehelichen Geschlechtsverkehrs), oder wenn es klare Beweise gab, dass das Opfer dergleichen getan hatte. Die Entführung einer unverheirateten Frau konnte mit bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft werden, während die Entführung einer verheiraten Frau mit mindestens sieben Jahren geahndet wurde. Dies legte nahe, dass im zweiten Fall das wahre 'Opfer' der Ehemann war.
Das Fortbestehen dieser Normen über das Ende des 20. Jahrhunderts hinaus war kein bloßer rechtlicher Anachronismus, sondern spiegelte die in der türkischen Gesellschaft verwurzelten Werte wider – auch unter Richtern und Staatsanwälten. Doch zur selben Zeit wurden diese Werte zunehmend in Frage gestellt. Besonders gut sichtbar wurde dies anhand der öffentlichen Reaktionen auf einige äußerst umstrittene Gerichtsentscheide. 1987 verwehrte ein Richter in der zentralanatolischen Provinz Corum einer schwangeren Frau, die von ihrem Ehemann misshandelt worden war, die Scheidung und zitierte zur Begründung das türkische Sprichwort: "Frauen sollten niemals ohne Kind im Bauch und Schläge auf den Rücken sein!" Das Urteil löste die erste öffentliche Demonstration seit dem Staatsstreich von 1980 aus, als mehr als eintausend Frauen im Istanbuler Bezirk Kadiköy auf die Straßen strömten.
Ein anderes Gericht verurteilte 1996 einen jungen Mann, der in der Provinz Sanliurfa seine Cousine Sevda Gök ermordet hatte, zu einer leichten Strafe und schloss sich damit der Argumentation der Anklage an, dass "der Vorfall auf die sozioökonomische Struktur Sanliurfas zurückzuführen ist." Das 16jährige Mädchen war ermordet worden, nachdem in ihrer Gemeinde Gerüchte laut geworden waren, sie habe sich "schändlich" verhalten. Das Verfahren beförderte die Toleranz der Justiz für solche 'Ehrenmorde' in das Schlaglicht der nationalen Aufmerksamkeit. Doch die landesweite Empörung konnte weitere derartige Urteile nicht verhindern. Noch im Juni 2003 sprach ein Gericht in der südostanatolischen Provinz Mardin 27 mutmaßliche Täter, darunter Armeeoffiziere, vom Vorwurf der Vergewaltigung eines jungen Mädchens frei. Das Gericht befand, dass es unzureichende Beweise zur Beurteilung der Frage gab, ob das 13jährige Mädchen in den Akt eingewilligt hatte.
Derlei Erfahrungen spornten türkische Frauenorganisationen an, ihr Reformanliegen voranzutreiben. Doch es war erst der Prozess der europäischen Integration, der ihnen die politische Möglichkeit bot, wirkliche Fortschritte zu erreichen. Die Strafrechtsreform war eine Voraussetzung für die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen.
Der Verein 'Frauen für Frauenrechte' (WWHR) reagierte Anfang 2002 mit der Bildung einer Arbeitsgruppe aus Wissenschaftlern, NGOs und Anwaltsverbänden, um Empfehlungen für das neue Strafrecht zu erarbeiten: "zu jedem Artikel mit Frauenbezug formulierten wir Wort für Wort einen Änderungsvorschlag, einschließlich einer Begründung für unseren Standpunkt." Der Verein begann durch seine Publikationen, Medienkampagnen und seine Netzwerke in der Zivilgesellschaft auf seine Themen aufmerksam zu machen.
Doch mit dem überwältigenden Wahlsieg der AKP im November 2002 schien es vielen Aktivistinnen, als sei ihre Kampagne schon zu Ende, noch bevor sie richtig begonnen hatte. Als Nachfolgepartei der islamistischen Wohlfahrtpartei stuften viele Frauenorganisationen die AKP als grundsätzlichen Gegner ihrer Bestrebungen ein.
"Nach den Wahlen beriefen wir eine außerordentliche Sitzung ein. Einige wollten die ganze Sache einfach aufgeben. Doch nach anfänglichen Meinungsverschiedenheiten gewann die Gruppe neue Kraft… Es könnte noch mehrere Jahrzehnte dauern, bis das Strafrecht wieder reformiert würde. Wir dachten uns: 'Lasst es uns tun, damit wir unseren Töchtern sagen können, dass wir es wenigstens versucht haben'."
Doch die AKP-Regierung nahm den Faden direkt von ihren Vorgängern auf und übernahm einen von einer Expertengruppe für die vorherige Regierung erarbeiteten Gesetzesentwurf. Unabhängig von der jeweiligen Regierung hatte die Ausarbeitung des Entwurfs unter der Federführung führender Experten gestanden. Am bedeutendsten war Sulhi Dönmezer, der hohes Ansehen im türkischen Rechtswesen genießt und als 'Professor der Professoren' bekannt ist. Er war an den meisten Initiativen zur Strafrechtsreform seit den 50er Jahren beteiligt, unter anderem auch an der Vorbereitung einer neuen Strafprozessordnung nach dem Staatsstreich von 1980. Ende der 90er Jahre wurde er wiederum mit der Vorbereitung eines Entwurfs eines neuen Strafrechts betraut.
Der CEDAW-Türkeibericht von 1996 kam zu dem Schluss, dass 29 Artikel des türkischen Strafrechts nicht den Erfordernissen des Übereinkommens entsprachen. Erstaunlicherweise ließ der von Dönmezer für die von 1999 bis 2002 amtierende Regierung vorbereitete Gesetzesentwurf diese Bestimmungen bis auf kleinere kosmetische Änderungen unberührt. Als der neue AKP-Justizminister Cemil Cicek fotografiert wurde, wie er Dönmezer 2003 die Hand küsste, kommentierte die der AKP nahestehende Zeitung Yeni Safak sarkastisch:
"Dies ist wieder einmal eine der Szenen, die die Türkei so absonderlich erscheinen lassen. Es ist ein Treppenwitz der Geschichte, dass Dönmezer nun der EU-Rechtsangleichung vorsteht. Sie entscheiden, ob wir nun lachen oder weinen sollen…"
Im April und Mai 2003 legte der AKP-Justizminister den Dönmezer-Entwurf schließlich dem 24köpfigen Rechts- und Justizausschuss des türkischen Parlaments vor.
Für WWHR und die Frauenarbeitsgruppe war dies der Moment, eine breit angelegte Kampagne zu starten und eine Koalition von über 30 NGOs zu bilden: die Koalition für das türkische Strafrecht. WWHR brachte eine Broschüre mit konkreten Empfehlungen für die neuen Abgeordneten heraus und traf sich mit dem Vorsitzenden des Rechts- und Justizausschusses Köksal Toptan (AKP). Toptan hörte sich die Argumente der Koalition schweigend an und ließ nicht wenige ihrer Mitglieder mutlos zurück. Dennoch kündigte Toptan im Juni 2003 an, die Einwendungen der Frauenorganisationen würden in einem Unterausschuss beraten. Er stimmte mit der Forderung überein, Vergewaltigung in der Ehe zu bestrafen. Toptan wies auch auf die Bedeutung des EU-Integrationsprozesses als Antriebskraft der Reform hin:
"Die Türkei befindet sich im EU-Aufnahmeprozess. In diesem Rahmen wurden wichtige Gesetze und Reformpakete verabschiedet. Es gab 65 Gesetzesänderungen. Nun steht dieses Strafrecht in deutlichem Widerspruch zu den neuen verabschiedeten Angleichungsgesetzen. Niemand sollte daran zweifeln, dass wir dies bis in die oberste Ebene tragen werden."
Im Lauf des Sommers 2003 wurde deutlich, dass sich zum ersten Mal eine wirkliche öffentliche Debatte über die Gleichberechtigung von Mann und Frau entwickelte. Yeni Safak erinnerte die Regierung an ihre Zusage, mit den NGOs zusammenzuarbeiten. Am 23. Juli ermutigte Ali Bayramoglu die Regierung in derselben Zeitung, sich mit den Frauenorganisationen zu treffen und ihr Anliegen ernst zu nehmen. Am Folgetag veröffentlichte er einen Brief eines Wissenschaftlers der Universität Istanbul, der ausführte, dass die Beratungen zu dem neuen Gesetz zu kurz gewesen seien, und dass Anregungen nicht in Betracht gezogen worden seien. Ali Bayramoglu schlussfolgerte:
"Wichtig ist, wie das Ministerium die Zusammenarbeit und Teilnahme an einem Prozess organisiert, der die gesamte Gesellschaft betrifft. Das ist noch wichtiger als das Strafrecht an sich."
Justizminister Cemil Cicek rief Ali Bayramoglu nach dessen Artikel in Yeni Safak an, um zu betonen, dass die Regierung sich weiterer Diskussion zu diesem Thema nicht verschließe. Der Minister betonte abermals, dass
"wir uns wegen der Kritik am Entwurf des neuen Strafrechts nicht unwohl oder unsicher fühlen. Wir möchten, dass die verschiedensten Meinungen im Ausschuss gehört werden. Unter der Leitung Köksal Toptans wird der Ausschuss tun was nötig und möglich ist."
Die Regierung war sich des Ausmaßes des Zweifels türkischer Frauenorganisationen an ihren Absichten wohl bewusst. Der AKP-Abgeordnete Hakki Köylu erklärte gegenüber ESI:
"Wenn man AKP sagt, denken viele an eine zutiefst religiöse Partei. Weil die AKP aus einer solchen Partei hervorgegangen ist, glauben viele, alle ihre Abgeordneten seien so und sicherlich nicht darauf aus, die Rechte von Frauen zu verteidigen. Doch jene, die sich von ihrer alten Partei trennten, taten dies aus einem guten Grund – sie stimmten nicht mit ihr überein."
Als der Unterausschuss zur Reform des Strafrechts Ende Oktober 2003 seine Arbeit aufnahm, war es den Frauenorganisationen gelungen, der Debatte eine neue Richtung zu geben. Köksal Toptan sagte im Staatsfernsehen:
"Die Frauenorganisationen haben eindrucksvoll bewiesen, wie die öffentliche Meinung geformt werden kann. Sie nahmen an Ausschusssitzungen teil oder reichten Berichte ein. Und sie haben die öffentliche Meinung erfolgreich kanalisiert. Wir haben alle Berichte, die die Frauenorganisationen den Mitgliedern des Unterausschusses überreicht haben. Wenn wir uns mit den von ihnen kritisierten Artikeln befassen, werden wir sicherlich darauf zurückgreifen. Bei der Ausgestaltung dieses Gesetzes werden wir allen Teilen der Gesellschaft zuhören und ganz besonders den Frauen."
Der Unterausschuss verlängerte seine Beratungen um neun Monate bis Juni 2004. Ihm gehörten drei Abgeordnete der AKP, zwei der Republikanischen Volkspartei (CHP) und drei parteilose Experten an. Die Experten waren für ihre Kritik am Dönmezer-Entwurf bekannt und traten dafür ein, ihn von Grund auf umzuschreiben. Die durch den EU-Integrationsprozess entstandene Atmosphäre spielte für die Mitglieder des Unterausschusses dabei eine wichtige Rolle, einen Konsens darüber herzustellen, dass eine Fundamentalrevision nötig war. Die Presse erhielt täglich einen Bericht über den Fortgang der Gespräche – ein für die Türkei ungewöhnlicher Grad an Transparenz.
"Während der Beratungen des Unterausschusses warteten sechs oder sieben Journalisten an der Tür. Jeden Tag erklärte ich nach dem Treffen, was wir an diesem Tag getan hatten. Sie berichteten darüber in den Zeitungen. Und wenn es Klagen gab, wurde darüber ebenfalls berichtet und wir konnten darüber lesen. Auf eine gewisse Weise war dies eine Form des Zusammenspiels mit den interessierten Sozialpartnern."
Der AKP-Abgeordnete und Mitglied im Unterausschuss Bekir Bozdag erklärt den Motivationszusammenhang für die Mitglieder des Ausschusses so:
"Wir im Unterausschuss spürten, dass die Gesellschaft uns in unserer Arbeit unterstützte. Frauenorganisationen und die Medien, sie alle verfolgten unser Tun wohlwollend und das machte den Unterschied."
Das kleine WWHR-Team koordinierte von seinem Büro nahe dem Taksimplatz in Istanbul eine äußerst effektive Kampagne. In Ankara war die NGO "Fliegender Besen" in ähnlicher Weise tätig. Bei jedem Durchbruch gratulierten sie sofort den Mitgliedern des Unterausschusses. Außerdem versorgten sie die EU-Botschaften mit Informationen. Wann immer mehr Druck nötig war, schickten sie Faxe und E-Mails oder besuchten das Parlament.
"Über Monate verschickten wir Faxe, veröffentlichten Presseerklärungen, entsandten Delegationen nach Ankara, luden Abgeordnete zum Essen ein oder schrieben deren Vertretern unterstützende Briefe. Wir verfolgten das Geschehen im Inneren durch unsere Freunde in der Nationalversammlung. Das ermöglichte es uns bei der Beratung jedes Artikels positiv oder negativ zu reagieren."
Während des gesamten Prozesses war die CHP-Abgeordnete Gaye Erbatur eine Schlüsselfigur und Vertraute der Frauenorganisationen. Obwohl sie kein Mitglied des Unterausschusses war, verwandte sie fast ihre gesamte Zeit darauf, den Prozess zu beeinflussen.
"Ich ging jeden Tag zu den Beratungen des Unterausschusses, um zu hören, worüber beraten wurde. Ich nutzte die Beratungspausen, um mit den Ausschussmitgliedern Themen wie Jungfräulichkeitstests oder die Praxis, dass Vergewaltiger ihre Opfer heiraten, zu diskutieren. Ich gab ihnen konkrete Beispiele, um es ihnen zu ermöglichen, sich in die Lage der Frauen hineinzuversetzen. Die Debatten wurden sehr hitzig geführt."
Insbesondere im Herbst 2003 war die öffentliche Debatte um die Reform sehr aufgeheizt. Im Oktober verteidigte Dogan Soyaslan, ein Berater des Justizministeriums, der von Zeit zu Zeit an den Sitzungen teilnahm, einen Artikel des vorherigen Entwurfs, der Vergewaltigern Straffreiheit gewährte, wenn sie ihre Opfer heirateten. Soyaslan erklärte, niemand in der türkischen Gesellschaft würde sonst eine Frau heiraten, die nicht mehr Jungfrau sei. Von ihrem Vergewaltiger geheiratet zu werden, bewahre sie vor einem Ehrenmord. Er führte aus, dass
"Es sowieso viele erzwungene Ehen in Anatolien gibt. Doch diese Ehen halten. Vielleicht heiraten sie nach einer Vergewaltigung widerstrebend, doch die Zeit heilt alle Wunden. Sie werden vergessen. Die Ehe wird halten."
Soyaslans Äußerungen verursachten einen medialen Aufschrei, der sich noch verstärkte, als er in einer Fernsehdebatte bestätigte, dass er sich die Anwendung dieses Paragraphen auf die eigene Tochter nicht vorstellen könne und sagte "nein, ich bin anders, ich bin ein Professor". Die von seinen Äußerungen ausgelöste Debatte dauerte mehrere Wochen an, da die Plattform sie nutzte, um die inakzeptable, dem alten Strafrecht zugrundeliegende Denkweise, offenzulegen.
Obwohl Soyaslans Bemerkungen viel Staub aufwirbelten, konnten sie den Unterausschuss nicht beeindrucken. Dessen Vorsitzender Hakki Köylü (AKP) stellte klar, es sei "nicht die Aufgabe des Gesetzes, die negativen Folgen inakzeptabler gesellschaftlicher Praktiken zu mildern, sondern sie zu ändern und zu verhindern". Dieses Argument wurde von Bekir Bozdag (AKP) bekräftigt, der sagte, das Strafrecht solle gesellschaftliche Bräuche ändern und sich nicht an sie anpassen:
"Wenn man sich als Praktiker frühere Fälle vor Augen hält, wird es offensichtlich, dass das bisherige Strafrecht Unrecht oftmals deckte. Wir alle wissen das. Es widerspricht jeglicher gesetzlicher Logik, den Vergewaltiger zu ermutigen, sein Opfer zu heiraten."
Nach neun Monaten Arbeit war der Gesetzesentwurf von Grund auf überarbeitet. Artikel 1 erklärte, Zweck des Gesetzes sei der Schutz der Rechte und Freiheiten des Individuums. Der Entwurf wurde am 30. Juni 2004 an den Rechts- und Justizausschuss zurück überwiesen, der darüber bis zum 14. Juli beratschlagte und ihn weitgehend unverändert dem Parlament vorlegte, das das neue Strafrecht am 26. September 2004 in letzter Lesung verabschiedete.
Das Ergebnis war für die Türkei nicht weniger als eine rechtliche und philosophische Revolution. Laut der türkischen Feministin und Wissenschaftlerin Yakin Ertürk "hat sich die gesamte Geisteshaltung des Strafrechts verändert." Eine Kommentatorin beschrieb es als "die weitreichendste Debatte über Sexualität seit Gründung der türkischen Republik im Jahr 1923." Der Justizminister sagte vor dem Parlament:
"Die Türkei erlebt einen ebenso tiefgreifenden wie lautlosen Mentalitätswandel. Dessen wichtigster Widerhall ist das Strafrecht."
35 Artikel, die Frauen und ihr Recht auf sexuelle Autonomie betrafen, wurden geändert. Alle Verweise auf vage patriarchale Konstrukte wie Keuschheit, Moral, Schande, öffentliche Sitten oder Würde wurden ersatzlos gestrichen. Das neue Strafrecht behandelt Sexualverbrechen als Verletzungen individueller Rechte von Frauen und nicht als Verbrechen gegen die Gesellschaft, die Familie oder die öffentliche Moral. Es kriminalisiert die Vergewaltigung in der Ehe, beseitigt Strafnachlässe für Ehrenmorde, beendet die rechtliche Diskriminierung nicht-jungfräulicher und unverheirateter Frauen, kriminalisiert sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz und behandelt sexuelle Übergriffe durch Angehörige der Sicherheitskräfte als schwere Körperverletzung. In den Bestimmungen zum sexuellen Missbrauch von Kindern wurde die Möglichkeit, dass Minderjährige ihre Zustimmung zum Geschlechtsverkehr geben, gestrichen.
Dies war nicht nur eine Revolution der rechtlichen Stellung von Frauen, es war auch ein Zeichen eines weitreichenden Wandels der türkischen Demokratie. Mit seinen intensiven Debatten und Eingaben aus allen Teilen der Gesellschaft war der gesamte Prozess äußerst transparent.
"Dies war ein Wendepunkt in der türkischen Geschichte, denn niemals zuvor hat das Parlament im Gesetzgebungsprozess öffentliche Anhörungen abgehalten."
Es ist bemerkenswert, dass dieses sensible Reformpaket im parteiübergreifenden Konsens zwischen AKP und CHP beschlossen werden konnte. Im September 2004 drückte der Justizminister es vor dem Parlament so aus: "In einem halben Jahrhundert der Mehrparteiendemokratie ist dies wahrscheinlich das erste Mal, dass das Parlament seinen eigenen Entwurf erarbeitet hat." Er feierte dies als Wandel des traditionell konfrontativen parlamentarischen Verfahrens in der Türkei und hob es als "das vielleicht wichtigste Verdienst dieses Parlaments überhaupt" hervor.
Das Bild des neuen Strafrechts wurde in letzter Minute durch einen Versuch Premierminister Erdogans getrübt, Ehebruch zu kriminalisieren. Ausländische Medien stellten dies als die Rückkehr zu den Prinzipen des islamischen Familienrechts dar: tatsächlich wäre es aber eine Rückkehr zur Rechtslage von 1926 bis 1996 gewesen (für Männer; für Frauen wurde Ehebruch erst 1998 entkriminalisiert). Es handelte sich auch um keine 'islamistische Verschwörung': Frauenorganisationen stellten schockiert fest, dass der Vorschlag des Premierministers anfänglich auch Unterstützung in den Reihen der oppositionellen CHP fand. Diese Initiative war jedoch ein Bruch mit dem beratenden Verfahren, das die Reform hervorgebracht hatte und das vom Justizminister so gelobt worden war – und sie scheiterte. Die Reaktionen in der Türkei und in Europa fielen äußerst feindselig aus und zwangen den Premierminister, den Vorschlag zurückzuziehen. Wenig überraschend hinterließ diese Episode einen bitteren Nachgeschmack.
Nichtsdestotrotz stellt das Strafrecht von 2004 eine große Errungenschaft für die Frauenbewegung, die Regierung und die Opposition dar. Anders als die Reformen der 20er Jahre war es nicht Folge eines autoritären Diktats, sondern eines intensiven Dialogs und der Miteinbeziehung der Zivilgesellschaft und der Medien in den parlamentarischen Prozess. Es war nicht nur ein Erfolg für die türkischen Frauen, sondern auch für die türkische Demokratie. Mit dem neuen Strafrecht trat die türkische Gesetzgebung in die post-patriarchale Zeit ein.
Das Recht kann eine mächtige Antriebsfeder sozialen Wandels sein, doch es kann keine Wunder bewirken. Es muss durch entsprechende Maßnahmen und Regierungsinitiativen unterstützt werden, um das nötige Bewusstsein zu schaffen, und um die Bürger in die Lage zu versetzen, den neuen rechtlichen Rahmen auszuschöpfen. Auch dann kann es noch viele Jahre dauern, bis die Auswirkungen in der Breite der Gesellschaft sichtbar werden.
Im Laufe unserer Forschung stießen wir auf Polizeistatistiken für das Jahr 2005, die Fälle von Männern auflisteten, die "Frauen unter dem Vorwand, sie heiraten zu wollen ihrer Jungfräulichkeit beraubten", obwohl dieses Verbrechen seit der Strafrechtsreform nicht mehr existiert. In Südostanatolien stellten wir fest, dass es immer noch Monate dauern kann, bis Richter über Ersuchen nach Nothilfe für Frauen entscheiden, die von ihrer Familie bedroht werden. Im ganzen Land gibt es noch immer eine Reihe von Richtern und Staatsanwälten, denen der Inhalt der neuen Gesetze nicht bekannt ist.
Wie weit ist die Türkei also auf dem Weg zur Gleichberechtigung vorangeschritten? Dieses Kapitel untersucht eine Reihe von Regierungsinitiativen und deren Auswirkungen auf verschiedene Teile der türkischen Gesellschaft. Es macht deutlich, dass die Rechtsreform nur der erste Schritt auf einem sehr langen Weg sein kann. Und es zeigt eine der wichtigsten Herausforderungen der türkischen Politik auf: die weite Spanne von Traditionen und Lebensentwürfen in einer der größten Demokratien Europas – von post-modern bis zu neo-feudal.
Am 30. Oktober 2006 ging die 22jährige Songül A. aus dem kurdischen Dorf Hacikislak im Distrikt Özalp der Provinz Van nahe der iranischen Grenze mit ihrem Bruder zum Anwalt. Wie hunderttausende anderer Mädchen in der ländlichen Türkei war sie bei ihrer Geburt nicht von ihren Eltern registriert worden. Soweit es den türkischen Staat betraf, existierte sie nicht. Sie hatte niemals eine Schule besucht und konnte weder lesen noch schreiben.
Ihr Ehemann Mehmet war Saisonarbeiter und nicht zu Hause, als sie von ihrem Nachbarn Hüseyin vergewaltigt wurde. Bahattin, ein Verwandter Mehmets, erfuhr von der Vergewaltigung und sperrte Songül in eine Scheune, in der er sie zwei Tage lang quälte. Gemäß den üblichen Gepflogenheiten galt die Frau als die Schuldige an der Ehrverletzung ihres Mannes und nicht als Opfer.
Nun trat der traditionelle dörfliche Mechanismus zur Beilegung von Fragen der ‘Ehre' in Kraft. Ein eigens einberufener achtköpfiger Ältestenrat beriet, wie eine blutige Fehde zwischen den beiden aşirets (Stämme) vermieden werden konnte. Wie in der gesamten Region bilden auch in Özalp Stämme das Rückgrat der sozialen und politischen Struktur auf lokaler Ebene. Die wichtigste Frage war dabei, wie die 'Ehre' von Songüls Mann Mehmet und die seiner Familie wiederhergestellt werden konnte. Der Rat entschied, dass die Auflösung der Ehe Songüls die angemessene Lösung sei und verpflichtete die 16jährige Tochter des Vergewaltigers Hüseyin dazu, Songüls Mann Mehmet in einer religiösen Zeremonie zur 'Wiedergutmachung' zu heiraten.
Songül kehrte in das Haus ihres Vaters im Dorf Günyüzü zurück. Doch wegen Songüls Schwangerschaft durch die Vergewaltigung und der bereits brodelnden Gerüchteküche war Songüls Leben zunehmend durch ihre eigene erweiterte Familie bedroht. Da entschied ihr Bruder, sie in die Distrikthauptstadt Özalp zu einem der Familie bekannten Rechtsanwalt zu bringen.
Der Anwalt brachte sie zum Staatsanwalt in Özalp. Songül berichtete diesem von ihrer Vergewaltigung, der ungewollten Schwangerschaft und von der Gefahr, in der sie sich durch die Entehrung ihres Mannes und dessen Familie befand. Der Staatsanwalt ließ den mutmaßlichen Vergewaltiger Hüseyin und den Verwandten Bahattin, der Songül gequält hatte, zum Verhör bringen. Doch statt Songül in Schutzhaft zu nehmen, schickte er sie zu ihrem Vater zurück und warnte die Familie, sie nicht anzurühren.
Der Staatsanwalt kam aus Afyon in der Westtürkei und war erst kürzlich nach Özalp berufen worden. Laut Songüls Anwalt ist es nicht unüblich, dass aus anderen Regionen berufene Staatsbeamte nur über geringe Kenntnisse über die Traditionen der örtlichen Stämme verfügen. Der Anwalt sagte ESI auch, dass er es ohne den Schutz seines eigenen starken Stammes (asiret) nicht gewagt hätte, einen Fall wie den von Songül anzunehmen, da er sich dadurch selbst Einschüchterungen durch die Familie des Angeklagten aussetze.
Die in Van arbeitende Frauenaktivistin Zozan Özgökce erfuhr aus den Medien von Songüls Schicksal und war sehr besorgt, denn nur einen Monat zuvor hatte ein Staatsanwalt in einem anderen Teil der Provinz einer Jugendlichen, die ein uneheliches Kind geboren hatte, seinen Schutz verweigert. Er verließ sich auf die Versicherungen ihrer Familie und sandte sie nach Hause. Vier Tage später wurde sie von ihrem eigenen Bruder ermordet.
Aus Furcht um Songüls Leben wandte sich Özgökce an die Behörden von Van. Obwohl es ein Sonntag war, telefonierte sie mit mehreren Abteilungen der Sicherheitsorgane und des Provinzdirektorats für soziale Dienste. Diese teilten ihr mit, sie könnten ohne eine Anweisung des Staatsanwalts nichts unternehmen. Doch Özgökce konnte weder den Staatsanwalt noch den Provinzgouverneur erreichen. Als letzten Ausweg wandte sie sich an den Journalisten Fatih Cekirge, von dem sie wusste, dass er eine Dokumentation über Ehrenmorde vorbereitete. Er hatte am selben Abend einen Auftritt im Fernsehen und versprach, den Fall aufzugreifen. Während der Sendung rief Cekirge den Provinzgouverneur provokativ dazu auf, etwas zu unternehmen: "Lasst uns sehen, ob der Staat wirklich existiert!" Die Reaktion erfolgte umgehend. Noch in derselben Nacht nahm die Polizei Songül und die Tochter des Vergewaltigers in Schutzhaft.
Die beiden Frauen befinden sich nun in einer Zuflucht für misshandelte Frauen in einer anderen Provinz. Gegen Hüseyin (für die eigentliche Vergewaltigung), die Dorfältesten, die die minderjährige Tochter des Vergewaltigers gegen ihren Willen zur Heirat zwangen und gegen Songüls Ex-Mann wurden Strafbefehle erlassen.
Songüls dramatische Geschichte ist kein isolierter Einzelfall. Für die gesamte Türkei gibt die Polizeistatistik von 2000 bis 2005 1.091 Fälle von Ehrenmorden aus. Dies sind jedoch nur die Fälle in urbanen Gebieten im Einflussbereich der Polizei. Ein Parlamentsbericht zu Ehrenmorden aus dem Jahr 2005 gesteht ein, dass bis jetzt "keine umfassende und systematische Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen durchgeführt wurde".
Gewalt ist ein Bestandteil des täglichen Lebens vieler Frauen in Van. Befragungen weisen aus, das 82 Prozent der Frauen 'oft' oder 'sehr oft' Opfer von Gewalt sind. 53 Prozent berichten von Gewalt durch ihren Ehemann und 30 Prozent von Gewalt durch ihre Schwiegermutter. Auslösende Momente für häusliche Gewalt kann das Verlassen des Hauses ohne Erlaubnis oder eine zu späte Rückkehr, die Vernachlässigung des Haushalts oder die Verweigerung des ehelichen Geschlechtsverkehrs sein.
Das erhebliche Ausmaß der Gewalt gegen Frauen in Van ist in einen klaren kulturellen, sozioökonomischen und politischen Kontext eingebettet. Van befindet sich im äußersten Osten Anatoliens an der iranischen Grenze und ist eine der ärmsten Provinzen der Türkei. Es ist einem dramatischen sozialen und wirtschaftlichen Wandel ausgesetzt. In den vergangenen Jahrzehnten war es das Ziel beträchtlicher Wanderungsströme von Menschen, die durch den bewaffneten Konflikt im Südosten zwischen der türkischen Armee und der Terrororganisation PKK ihre Heimat verloren und Vans Bevölkerung um nahezu ein Viertel ansteigen ließen. Dies führte dazu, dass die dörfliche Lebensweise sogar in den Städten zur vorherrschenden wurde. Von ihrem eigenen Grund und Boden abgeschnitten, verdingen sich viele der Einwanderer als Gelegenheits- oder Saisonarbeiter. In Vans 1998 gegründeter Industriezone gibt es nur 27 aktive Betriebe; die übrigen 73 Parzellen sind leer oder nicht fertig gestellt. Von den über eine Million Einwohnern der Provinz arbeiten weniger als 7.000 Menschen im industriellen Sektor. Das monatliche Pro-Kopf-Einkommen liegt bei 55€. Nach jedem Maßstab sozioökonomischer Entwicklung in der Türkei erreicht Van einen der letzten Plätze.
Angesichts dieser tief verwurzelten Armut sind große Familien auch weiterhin ein Schlüsselmechanismus des Schutzes und sozialer Kontrolle. Haushalte in Van haben durchschnittlich 7,4 Mitglieder, deren Frauen zumeist zu Hause bleiben müssen, um für Kinder und Alte zu sorgen und Hausarbeiten zu verrichten. Mädchen heiraten in einem sehr jungen Alter – die Hälfte von ihnen zwischen 16 und 20 – und häufig innerhalb der erweiterten Familie.
16 Prozent der Männer und fast die Hälfte der Frauen in Van sind Analphabeten. Obwohl es in Van eine Universität gibt, besucht nur ein Drittel aller Schüler eine weiterführende Schule. Diese Faktoren – hohe Abhängigkeit von Subsistenzwirtschaft, eine plötzliche Urbanisierung in jüngster Vergangenheit, niedrige Einkommen, große Familien, dürftige Ausbildungsergebnisse – tragen zum Fortbestehen einer zutiefst konservativen Gesellschaft bei, in der traditionelle Ansichten zur Stellung der Frau und zur Ehre des Mannes vorherrschen – unter Frauen wie unter Männern.
Doch wie sich an Songüls Geschichte erkennen lässt, gibt es sogar in Van verhaltene Zeichen des Wandels. Der Einfluss von Aktivistinnen wie Zozan Özgökce ist ein neuer Faktor. Am 9. April 2004 gründete Özgökce zusammen mit sechs weiteren Frauen VAKAD (Van Kadin Dernegi) [Van Frauenverein] zur Unterstützung der Opfer von Familiengewalt. Mit zehn Mitarbeiterinnen und einem Netzwerk von 30 Freiwilligen bieten sie Beratungen und Schulungen an. Eines ihrer Ziele ist es, kurdischen Frauen die Scheu vor staatlichen Einrichtungen zu nehmen (viele kurdische Frauen aus der Region sprechen kein Türkisch). Eine Untersuchung des WWHR ergab, dass 57 Prozent aller Frauen in der östlichen Türkei körperliche Gewalt erlebt hatten, doch nur 1,2 Prozent hatten die Polizei verständigt und nur 0,2 Prozent hatten eine Beschwerde eingereicht.
VAKAD ist heute nicht die einzige derartige Organisation in Van. Yakakop – die erste in der Stadt Van gegründete Frauen-NGO – organisiert für Frauen Kurse zu Gesundheitsfragen und zur Vermittlung einfacher Fähigkeiten. "Keine Frau verließ jemals das Haus ohne einen Mann aus der Familie", so erinnert sich Gülmay Ertünen an ihre eigene Zeit als frisch verheiratete junge Frau. Heute führt sie Yakakop. Yakakop nahm mit einem Kleinkredit der Weltbank seinen Anfang. Ertünen mühte sich über Monate, die Ehemänner davon zu überzeugen, ihre Frauen alleine außer Haus zu lassen, um die Kurse zu besuchen. Es bedurfte der Vermittlung des örtlichen Imams, um die Männer zu überzeugen, dass es sich bei Yakakop um eine 'ehrenhafte' Organisation handelte.
Auch das politische Umfeld für solche Aktivitäten ist schwierig. Zozan Özgökce berichtet, dass einige Frauenorganisationen in Istanbul und Ankara ihre Versuche ablehnen, den spezifischen kurdischen kulturellen Kontext der Geschlechterungleichheit zu thematisieren. "Sie sagen, ich solle keine Opferhierarchie schaffen, da 'wir alle Frauen seien und zusammen kämpfen müssten'." Doch auch in Van selbst wird VAKAD von Zeit zu Zeit als missionarische Einrichtung oder als Agent ausländischer Interessen angeprangert, da es teilweise von internationalen Geldgebern wie der Europäischen Union unterstützt wird. Nach ihrer Rückkehr von einem Treffen des CEDAW in New York breitete sich das Gerücht aus, Özgökce habe in ihrem Koffer Bibeln mitgebracht. Tatsächlich handelte es sich um Broschüren internationaler Frauenorganisationen. Konservative Kreise greifen sie an, weil sie die Familie untergrabe und der Stadt einen schlechten Ruf bereite. Sie erhielt Todesdrohungen aus Familien, deren Frauen sie unterstützt.
Die Reaktion der Behörden auf Songüls Fall ist auch ein Zeichen des Wandels. Sie zeigt, wie lange es dauert, bis rechtliche und institutionelle Reformen bis zur lokalen Ebene durchdringen. Das 1998 verabschiedete Gesetz 4320 zur häuslichen Gewalt ermöglicht es Staatsanwälten, Frauen gewalttätiger Ehemänner unter Schutz zu stellen, einschließlich der Bereitstellung von Schutzunterkünften für Frauen, die nicht länger zu Hause bleiben können. Doch wie Songüls Rechtsanwalt ESI sagte:
"So etwas wie ein Schutzgesuch wird hier nicht eingereicht… Aber auch wenn ich den Fall gegen diese Männer verliere, ist es schon ein Sieg. Jeder hat nun gehört, dass der Staat Frauen unter diesen Umständen schützt."
Lokale Staatsanwälte sagen, wegen der schlechten Transportwege und Kommunikationsmittel gebe es in ländlichen Gebieten nur wenige Beschwerden von Frauen. Staatsanwälte zögern aus Furcht vor einer Eskalation der Gewalt auch, ihren Befugnissen Geltung zu verschaffen. Die informelle Macht der Stämme ist ungebrochen. Es gibt zudem Zweifel, ob das Familienschutzgesetz auch auf Paare (Schätzungen gehen von bis zu 20 Prozent aus) Anwendung findet, die nur religiös getraut wurden (imam nikahi), was von Gerichten nicht anerkannt wird. 1996 stellte WWHR fest, dass elf Prozent aller Frauen in polygamen Beziehungen leben, die seit 1926 offiziell verboten sind. Für viele dieser Frauen liegt auch das beste Gesetz einfach außerhalb ihrer Reichweite.
Mangelhafte Absprachen zwischen den Behörden und das Fehlen geeigneter Schutzeinrichtungen kamen erschwerend hinzu. Mittlerweile wurde ein Frauenhaus eingerichtet. Die Provinzregierung hat auch einen zwischenbehördlichen Beobachtungsausschuss eingesetzt, der die Arbeit von Frauenschutzeinrichtungen koordiniert. Im September 2005 nahm das erste Familiengericht Vans seine Arbeit auf.
Diese Maßnahmen sind zum Teil Initiativen der Zentralregierung geschuldet und folgten auf eine 2006 vom Premierminister erlassene Weisung "Vorkehrungen gegen Gewalt gegen Frauen und Kinder sowie entsprechende Sitten und Ehrenmorde zu ergreifen". Die Weisung war Ergebnis der Empfehlungen eines im Mai 2005 eingerichteten 12köpfigen Sonderausschusses des Parlaments unter Führung der AKP-Abgeordneten Fatma Sahin. Der Ausschuss forderte eine breit angelegte nationale Strategie zur Aufwertung des Status von Frauen in der Türkei und zur Bekämpfung von Gewalt und weist auf die Notwendigkeit positiver Diskriminierung bis zur Erlangung von Gleichheit zwischen Männern und Frauen hin. Sicherzustellen, dass diese Initiativen an einem Ort wie Van Wirkung zeigen, wird jedoch noch viel Mühe erfordern.
Geographisch, kulturell und ökonomisch weit entfernt von Van liegt am anderen Ende Anatoliens Kadiköy, einer der wohlhabendsten Bezirke Istanbuls. Es ist einer der Lieblingsplätze der führenden Schicht des Landes. Auf dem Bagdat-Boulevard buhlen internationale Marken um die Aufmerksamkeit von Kunden während die Straßencafes bis auf den letzten Platz gefüllt sind. Entlang der Küste des Marmarameers gibt es exklusive Segelclubs. Ganz anders als das isolierte Van ist Kadiköy ein per Schiff, Zug und Bus mit jedem Winkel des Landes verbundener Verkehrsknotenpunkt. Kadiköy hat eine alternative Musikszene und ist Stammsitz des bekannten Fenerbahce Fußballclubs. Die Bevölkerung beträgt 660.000 und damit mehr als die mancher EU-Mitgliedstaaten. Das Gemeindemotto lautet: "Es ist ein Privileg in Kadiköy zu leben."
Wie sieht das Leben der Frauen von Kadiköy im Jahr 2007 aus? 95 Prozent der Einwohner können lesen und schreiben und jeder fünfte hat eine Universität besucht. Dass Frauen arbeiten, ist nichts besonderes mehr und immer mehr Frauen steigen in führende Positionen auf. Viele Frauen entscheiden sich, später zu heiraten und Kinder zu kriegen. Die durchschnittliche Haushaltsgröße ist auf 2,4 Personen gefallen. Auf Grund der vielfältigen Einflüsse aus Europa stehen die Frauen von Kadiköy an der Spitze der türkischen Frauenbewegung und haben eine Vielzahl von Vereinen gegründet. Inci Bespinar, Kadiköys stellvertretende Bürgermeisterin erklärt es so:
"Kadiköy bot Frauen das Umfeld, in dem sie Fragen nach ihrem Platz in der Gesellschaft aufwerfen konnten. Sie hatten die nötige finanzielle Absicherung und Zeit, um über solche Dinge nachzudenken. Und sie hatten die kulturellen und fremdsprachlichen Kenntnisse, um an die Diskurse im Ausland anzuknüpfen. Kadiköy hatte gute Kontakte zu ausländischen Frauenorganisationen. Wann immer unsere Frauen ins Ausland reisten, erwarteten wir ihre Erfahrungsberichte mit großer Spannung. Zeit, Geld und Kultur… das sind die drei Hauptbestandteile."
Sowohl die Gemeindebehörden, denen seit 1994 ein CHP-Bürgermeister vorsteht, als auch die Privatwirtschaft haben auf die steigenden Erwartungen (und die steigende Kaufkraft) der Mittelklassefamilien reagiert. 1989/90 eröffnete die erste Vorschule. Mittlerweile gibt es fünf Kinderhorte und 38 private Vorschulen. Das der Heimunterbringung von alten Menschen anhaftende soziale Stigma verblasst ebenfalls langsam, auch wenn manche darin eine unwillkommene Ausbreitung westlicher Werte sehen. Mittlerweile gibt es 17 Altersheime (fünf staatliche und zwölf private). Ein weiterer umstrittener gesellschaftlicher Trend ist die steigende Scheidungsrate, wenn auch bei einem sehr niedrigen Ausgangsniveau. In Kadiköy gibt es fünf Familiengerichte, die alle seit Januar 2003 in Folge der durch die EU angeregten Rechtsreformen ihre Arbeit aufnahmen. Diese Gerichte sind nach jedem Maßstab gut ausgestattet und verfügen über Psychologen, Sozialarbeiter und Pädagogen. Nur wenige der 157 Familiengerichte in der Türkei konnten diese Stellen besetzen.
Doch der Aufstieg der Frauen der Mittelklasse ist nur ein Teil der Geschichte Kadiköys. Wie auch in Van hat seine Bevölkerung in den vergangenen Jahrzehnten sprunghaft zugenommen, von 241.000 im Jahr 1970 auf über 660.000 im Jahr 2000. Dieses Wachstum war fast ausschließlich der Urbanisierung geschuldet. Über 60 Prozent der Bevölkerung sind außerhalb Istanbuls geboren. Die ärmeren Einwanderer leben in einfachen Siedlungen entlang der Autobahn E5 und machen etwa zehn Prozent der Bevölkerung Kadiköys aus. Die Frauen in diesen Stadtvierteln können größtenteils weder lesen noch schreiben, haben schlechte Aussichten auf Beschäftigung, sind auf Sozialhilfe angewiesen und sehen sich auf Grund dieser Gemengelage mit vielfältigen sozialen Problemen konfrontiert. Wie effektiv kann eine wohlhabende türkische Gemeinde solchen Problemen begegnen?
Inci Bespinar, die stellvertretende Bürgermeisterin Kadiköys, verkörpert die Vitalität der Frauen von Kadiköy. In einem Teil ihres geräumigen Büros plant eine Gruppe Frauen ein Kulturprojekt, während ihr Telefon ständig klingelt. Gleichzeitig bemüht sich ein Team von Beamten, den steten Strom ratsuchender Männern und Frauen in geordnete Bahnen zu lenken.
Bespinars eigenes Leben spiegelt die Verbesserungen des Status' von Frauen in Istanbul im Laufe der letzten Generation wider. Als älteste Tochter einer alten Istanbuler Familie ging sie ermuntert von ihrem Vater nach Ankara, um Wirtschaft zu studieren. Nachdem sie wegen der Teilnahme an Demonstrationen von der Universität verwiesen worden war, kehrte sie nach Istanbul zurück. 1973 und 1975 kamen ihre beiden Töchter zur Welt. Zunächst kümmerte sich ihre Schwiegermutter um sie, doch als diese 1976 starb, musste Bespinar zu Hause bleiben. 1977 wurde ihr eine Arbeit angeboten, die sie nicht annehmen konnte, denn die erste Vorschule der Gemeinde öffnete erst 1989.
Seit 1994 spielte Bespinar eine tragende Rolle in der Einrichtung von Beratungszentren für Familien, die kürzlich aus ländlichen Regionen gekommen sind. Diese Zentren bieten Frauen aus armen Familien Gesundheitsuntersuchen und Schulungen, die ihnen die Anpassung an das Leben in der Stadt erleichtern sollen. Heute gibt es zehn solcher Zentren und zwei Berufsausbildungszentren in Kadiköy. Sie dienen der Gemeinde als Frühwarnsystem, um auf gefährdete und auf Unterstützung angewiesene Frauen und Kinder aufmerksam zu werden.
In einer ruhigen Gegend der Gemeinde befindet sich das Ergebnis einer weiteren Initiative der betriebsamen stellvertretenden Bürgermeisterin Kadiköys. Im Jahr 2001 wurde sie von einer Frau um Hilfe angesprochen. Am nächsten Tag tötete ihr Mann sie mit einer Axt. Nach zwei schlaflosen Nächten ergriff Bespinar die Initiative, um die nötigen Mittel für die Einrichtung des ersten Frauenhauses Kadiköys aufzubieten. Die Weltbank und der türkische Staat stellten das nötige Startkapital bereit. Die Distriktregierung steuerte Gehälter für eine Krankenschwester, Psychologen, Verwaltungskräfte und Teilzeitärzte bei. Die Gemeinde bezahlt das Grundstück und unterstützt das Projekt mit Sachleistungen. Nach einem Beginn mit 15 Betten belegt das Frauenhaus heute zwei Gebäude. In den vergangenen drei Jahren bot es 437 Frauen und 269 Kindern in Not Unterkunft.
Kadiköys CHP-Verwaltung hat damit einen landesweiten Standard gesetzt. Nach UN-Maßgaben sollte es in einem Frauenhaus mindestens ein Bett pro 10.000 Einwohner geben. Mit 75 Betten bei einer Bevölkerung von 660.000 wird Kadiköy diesem Maßstab gerecht. In der gesamten Türkei kommt heute ein Bett auf 144.000 Menschen. Die meisten türkischen Gemeinden haben ihre neue rechtliche Verpflichtung zur Bereitstellung von Schutzunterkünften für Frauen nicht erfüllt.
Die Messung der Gleichberechtigung von Männern und Frauen gestaltet sich schwierig, doch eine Reihe internationaler Organisationen haben sich an ihrer Quantifizierung versucht – so z.B. das Weltwirtschaftsforum, das mit den 115 Ländern in seiner Rangliste 90 Prozent der Weltbevölkerung abdeckt. Für die politische Führung der Türkei sind die Ergebnisse mehr als ernüchternd: Die Türkei rangiert an 105. Stelle, hinter Bahrein, Algerien und Äthiopien und auch weit abgeschlagenen hinter dem am schlechtesten abschneidenden EU-Mitgliedstaat (Zypern, auf Platz 83). Worin liegen die Gründe für dieses vernichtende Ergebnis und bildet dies die Lebenswirklichkeit türkischer Frauen zutreffend ab?
1. Schweden […] |
[…] 97. Algerien […] |
Die Rangliste deckt vier verschiedene Bereiche ab: wirtschaftliche und politische Teilhabe, Bildungsabschlüsse und Gesundheit. Um die Gründe für das schlechte Abschneiden der Türkei beurteilen zu können, ist es hilfreich, detaillierte Zahlen mit denen zweier anderer europäischer Staaten zu vergleichen: Spanien (11. Platz) und Bulgarien (37. Platz). Die Türkei schneidet bei höheren Bildungsabschlüssen schlecht ab. Die Teilhabe von Frauen am politischen Leben ist ebenfalls gering, wobei der Blick auf die nationale Ebene den Blick noch verstellt. Denn betrachtet man die Gemeindeebene, so sieht man, dass lediglich 18 der 3.234 gewählten Bürgermeister der Türkei Frauen sind (0,56 Prozent), verglichen mit einem EU-Durchschnitt von 20 Prozent. Doch die Zahlen zur Beschäftigungsrate von Frauen stechen am stärksten ins Auge.
Indikator |
Spanien |
Bulgarien |
Türkei |
Beschäftigungsrate von Frauen |
45 % |
41 % |
28 % |
Gesetzgebung, leitenden Angestellte |
30 % |
30 % |
6 % |
Freie Berufe und Facharbeiter |
47 % |
34 % |
30 % |
Grundschule |
99 % |
95 % |
87 % |
Weiterführende Schulen |
99 % |
87 % |
- |
Universitäre Ausbildung |
72 % |
44 % |
24 % |
Weibliche Parlamentarier |
36 % |
22 % |
4 % |
Frauen in Ministeriumspositionen |
50 % |
24 % |
4 % |
Mit 28 Prozent liegt die Beschäftigungsrate von Frauen bei weniger als der Hälfte des EU-Durchschnitts. Doch selbst diese Zahl ist irreführend, denn 42 Prozent der arbeitenden Frauen arbeiten tatsächlich unbezahlt für ihre Familien, vor allem in der Landwirtschaft. In urbanen Gebieten liegt die Rate bei lediglich 18 Prozent.
Diese Beschäftigungsraten sind zu einem hohen Grad auf die strukturellen Merkmale der türkischen Wirtschaft zurückzuführen. Für Länder, die sich im Übergang von einer in erster Linie landwirtschaftlich geprägten Gesellschaft zu einer Industrie- und Dienstleistungswirtschaft befinden, besteht der erste Schritt meist in einem Rückgang der Teilhabe von Frauen – diese Dynamik wurde in den vergangenen Jahrzehnten überall in Südosteuropa beobachtet. So lange sie auf den Dörfern leben, bearbeiten die Frauen das Land. Doch sobald Familien vom Land in die Städte ziehen, verfügen Frauen über wenige verwertbare Fähigkeiten und sehen sich meist auf die eigenen vier Wände beschränkt. Einer neuen Generation von Frauen wird ein freierer Zugang zu mehr Möglichkeiten offen stehen, doch es dauert, bis sich dies in den Zahlen niederschlägt. Derzeit führt dieser Zusammenhang dazu, dass in der Türkei dreimal so viele Frauen Hausfrauen sind wie in der EU-15.
Angesichts der demographischen Trends stellt die Steuerung dieser Dynamik eine große Herausforderung dar. Zwar ist die Rate des Bevölkerungswachstums rapide gefallen (zwischen 2000 und 2006 um die Hälfte), doch das absolute Wachstum belief sich immer noch auf 6,1 Millionen – eine Zunahme von einer Million Menschen pro Jahr. Jedes Jahr nimmt die Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter zu. Dies führt dazu, dass im nächsten Jahrzehnt "ein Nettozuwachs von mehr als fünf Millionen Arbeitsplätzen nötig sein wird, um die Beschäftigungsrate auch nur auf dem derzeitig niedrigen Niveau zu halten." Zur Schließung der türkischen Geschlechterkluft wäre daher sogar ein noch schnelleres Arbeitsplatzwachstum von Nöten:
"Es ist wahrscheinlich, dass junge Türkinnen, die im Allgemeinen über eine bessere Ausbildung als ihre Mütter und Großmütter verfügen, Lohnarbeit außerhalb ihres Hauses suchen werden. Angesichts der Tatsache, dass sich mehr als 15 Millionen Türkinnen im arbeitsfähigen Alter derzeit nicht in Lohnarbeit befinden, würde jede Änderung der Zahl arbeitssuchender Frauen den Nachfragedruck nach Arbeitsplätzen noch erhöhen."
Die Türkei erlebt seit 2001 ein rasantes wirtschaftliches Wachstum mit im Durchschnitt mehr als sieben Prozent pro Jahr (sechs Prozent im Jahr 2006). Auslandsdirektinvestitionen (FDI) erreichten 2006 ein Rekordhoch von €15,4 Milliarden (US$19,2 Milliarden). Dies ist ohne Beispiel und schon in einem einzigen Jahr mehr als in der ganzen Zeitspanne von 1980 bis 2000. Nur in den ersten drei Monaten des Jahres 2007 beliefen sich die FDI auf €6.4 Milliarden. Wenn die türkische Wirtschaft ihre Dynamik beibehält, ist es daher möglich, dass die Nachfrage nach Arbeitskräften zunehmend mehr Frauen in Beschäftigung bringt.
Doch Beschäftigungswachstum ist nur ein Teil des Sachverhalts. Ein zusätzliches Problem ist der Mangel an Betreuungseinrichtungen für Kinder und Alte. In einem Land wie Schweden, das an erster Stelle des globalen Index' rangiert, waren in den 60er Jahren 70 Prozent aller Frauen Hausfrauen. Zu Beginn der 80er Jahre gingen 80 Prozent einer Arbeit nach. Neben einem starken Arbeitsplatzwachstum wurde in diesen Jahren auch eine Reihe von Maßnahmen wie erweiterte Elternfreizeiten oder staatlich bezuschusste Kinderbetreuung auf den Weg gebracht, um Frauen die Vereinbarung von Familie und Beruf zu erleichtern.
Die Tatsache, dass 63 Prozent aller arbeitenden Frauen kein Kind unter sechs Jahren haben, zeigt, dass es in der Türkei schwierig bleibt, Arbeit und Mutterschaft miteinander in Einklang zu bringen. Kinderbetreuungseinrichtungen sind äußerst dünn gesät oder fehlen völlig. Theoretisch ist jeder private Kindergarten dazu verpflichtet, mindestens zwei Kindern aus armen Familien einen kostenfreien Kindergartenbesuch zu ermöglichen. Diese Kinder werden von den Sozialdiensten und der Kinderschutzeinrichtung (SHCEK) bestimmt. Handelt es sich um eine größere Einrichtung, müssen es mindestens fünf Prozent aller Kinder sein. Doch tatsächlich besuchen nach dieser Regel nur 448 bedürftige Kinder im ganzen Land private Kindergärten. Auch sind die Kosten privater Kinderbetreuung für die meisten Familien zu hoch. Um die Altenpflege ist es ähnlich bestellt. Im August 2006 belief sich die Gesamtzahl der Plätze in Pflegeeinrichtungen für Senioren auf nur 18.849.
|
Frauen (Prozent) |
Männer (Prozent) |
In Arbeit |
12 |
67 |
Unbezahlte Familienarbeit |
8 |
3 |
Erwerbslos |
3 |
10 |
Hausfrau |
69 |
- |
Pensioniert |
4 |
15 |
In Ausbildung |
1 |
3 |
Krank/behindert |
2 |
2 |
Auch weiterhin bestehen kulturelle Werte fort, die Frauen dazu anhalten, zu Hause zu bleiben. Doch solche Werte scheinen weniger maßgeblich als die strukturellen und institutionellen Barrieren zu sein. In Westeuropa nahmen Vorbehalte gegen arbeitende Frauen schnell ab, als die Industrialisierung und schnelles wirtschaftliches Wachstum eine Ausweitung der arbeitenden Bevölkerung unabdingbar machten. Ein ähnlicher Pragmatismus leitete die osmanische Obrigkeit im Jahr 1915. Als auf dem Höhepunkt des Ersten Weltkriegs die meisten Männer in der Armee dienten, erließ sie ein Gesetz, das "eine Form der verpflichtenden Beschäftigung einführte und so die Zahl arbeitender Frauen rasch ansteigen ließ." Partriarchale Vorurteile wurden zum Vorteil des Landes zurückgestellt. Es ist wahrscheinlich, dass wirtschaftlicher Erfolg und Beschäftigungswachstum türkischen Frauen so wie im Rest Europas den Weg auf den Arbeitsmarkt ebnen würden. Eine Studie stellte kürzlich fest, dass mehr als drei Viertel aller Befragten es angemessen fänden, wenn Frauen leitende Funktionen im Privatsektor einnehmen.
Die Überwindung der Geschlechterkluft im Bildungssektor ist ebenfalls eine große Herausforderung. Theoretisch ist der Grundschulbesuch verpflichtend und kostenlos. Doch 2002 gingen Schätzungen zufolge 873.000 Mädchen und 562.000 Jungen im Alter von sechs bis 14 Jahren nicht zur Schule. In der ländlichen Osttürkei werden viele Mädchen bei der Geburt nicht registriert und liegen somit außerhalb des Einflussbereichs des Staates.
Seit 2003 gab es eine Reihe von Initiativen zur Erhöhung der Einschulungsraten, darunter die nationale Kampagne Haydi Kizlar Okula (Mädchen, lasst uns zur Schule gehen), um alle Mädchen im Grundschulalter zu erfassen. Von den bis 2006 273.000 angesprochenen Mädchen wurden 223.000 eingeschult. Lehrer arbeiten mit den Dorfvorstehern (Muhtar) und den Imamen zusammen, um Eltern zu überzeugen, ihre Töchter zur Schule zu schicken. Für jedes eingeschulte Kind wurde ein bestimmter monatlicher Geldbetrag angeboten, der direkt an die Mütter auf eigens auf ihre Namen eröffnete Konten überwiesen wurde. Für arme Familien ist dies ein nicht unbeträchtlicher finanzieller Anreiz.
Das Ausbildungsniveau nimmt zu und jede Generation türkischer Frauen ist besser ausgebildet als die ihrer Mütter. In der Altersgruppe der 20-24jährigen haben gut 34 Prozent aller Frauen eine weiterführende Schule oder eine Universität besucht, verglichen mit 16 Prozent bei den 40-44jährigen und lediglich drei Prozent der über 60jährigen. Die Ausgaben für Bildung haben ebenso stetig von 2,3 Prozent des Bruttosozialprodukts im Jahr 1995 auf 3,8 Prozent im Jahr 2005 zugenommen. Die Herausforderung ist abermals gewaltig: jedes Jahr muss das Bildungssystem eine Million weiterer Schüler aufnehmen.
Es ist die Politik selbst, in der auch auf kurze Sicht ein schneller Fortschritt bei der Erhöhung der Teilhabe von Frauen möglich erscheint. In den Parlamentswahlen von 2002 wurden nur 4,4 Prozent der 550 Parlamentssitze an Frauen vergeben, das entspricht 24 Sitzen (13 AKP; 11 CHP). Damit nimmt die Türkei den 114. Rang unter 119 Ländern insgesamt und bei weitem den niedrigsten in Europa ein. Die Türkei bildet auch bei der Zahl weiblicher Minister das Schlusslicht in Europa.
Die AKP hat 800.000 weibliche Mitglieder und führt für viele von ihnen Schulungen durch. Doch laut der Abgeordneten Fatma Sahin (AKP) sind die Ortsstrukturen der Partei nach wie vor stark von Männern dominiert. "Bei den Vorwahlen tun sich die Männer gegen die Frauen zusammen. Und nach den Vorwahlen haben die Frauen nicht mehr die Zuversicht, weiterzumachen. Innerhalb der bestehenden Struktur können Frauen nicht aufsteigen." Die AKP begann mit einer informellen 20-Prozent Quote und erhöhte diese auf Anordnung Premierminister Erdogans 2006 auf 30 Prozent. Zumindest in der Provinz Istanbul ist dieses Ziel mit 35,7 Prozent im Parteivorstand und 27 Prozent im Verwaltungsrat erreicht. In weiten Teilen Anatoliens wird die Partei ihrer Zielsetzung jedoch nicht gerecht – angeblich wegen der Schwierigkeiten ausreichend qualifizierte Kandidatinnen zu finden.
2007 führte die Frauen-NGO KADER eine landesweite Medienkampagne mit den Bildern prominenter Frauen mit falschen Schnurrbärten, die die Frage stellten: "Muss man ein Mann sein, um ins Parlament zu kommen?" Und in der Tat scheinen die Argumente für die ein oder andere Form einer Quotenregelung überwältigend, um den Anteil weiblicher Parlamentarier zu erhöhen. Die Abgeordnete Gaye Erbatur (CHP) gesteht ein, dass es Frauen schwer fällt, sich Gehör zu verschaffen.
"Ich fühle mich als Frau in der Politik häufig einsam. Wenn ich in die Große Nationalversammlung gehe, sehe ich hunderte von Männern mit Schnurrbärten. Wir benötigen eine Quotenregelung, um mehr Frauen den Eintritt in die Politik zu ermöglichen. Niemand kann mich davon überzeugen, dass ohne eine solche Regelung mehr Frauen ins Parlament gelangen werden."
Die EU-Parlamentarierin Emine Bozkurt bemerkte Ende Mai 2007:
"Vertreter aller Parteien sagen, dass sie sich mehr Kandidatinnen wünschen. Einige sind für Quoten, andere dagegen. Derzeit gibt es keine Quotenregelung, aber es gibt keinen Hindernisgrund, mehr Kandidatinnen ins Rennen zu schicken. Soll heißen, wenn die Parteien es wollen, können sie es auch tun."
Frauen, die das Kopftuch tragen, sehen sich zusätzlichen Problemen gegenüber. Ihnen ist es nicht gestattet, sich zu Wahlen aufstellen zu lassen, da das Kopftuch in allen staatlichen Einrichtungen einschließlich des Parlaments verboten ist. Das Kopftuch stellt auch für verschleierte Frauen, die studieren möchten, ein Problem dar. Eine der ersten Studentinnen, die wegen ihres Kopftuchs von der Universität verwiesen wurde, war Hatice Babacan. Sie studierte bis zu ihrem Ausschluss im Jahr 1967 Theologie und ist die Tante des derzeitigen Wirtschaftsministers und Chefunterhändlers für den türkischen EU-Beitritt. Zu dieser Zeit nahmen nur wenige Kopftuch tragende Frauen ein Studium auf. Doch seit den 80er Jahren hat sich das Problem verschärft. Das Gesetz über Höhere Ausbildung beinhaltete mit dem Zusatz Nr. 16 einen Artikel, der es Mädchen erlaubte, aus religiösen Gründen das Kopftuch zu tragen. Dieser Artikel wurde 1989 nach einem Urteil des Verfassungsgerichts mit der Begründung entfernt, die türkische Verfassung erlaube keinerlei religiösen Bezug in Gesetzen. Seit damals hat sich das Kopftuch zu einem höchst aufgeladenen Symbol entwickelt und nach dem sogenannten 'postmodernen Staatsstreich' von 1997 wurde die Debatte darüber kaum noch rational geführt. Ayse Böhürler (AKP) verbindet eine erfolgreiche Karriere als Fernsehsprecherin mit ihrer Rolle als Mutter dreier Kinder und einem aktiven Engagement in der Politik. Doch trotz ihrer Qualifikation kann sie sich keine Hoffnungen machen, ins Parlament zu gelangen.
"Frauen mit Kopftuch können sich nicht zur Wahl aufstellen lassen. Sie können in der Parteiverwaltung auf der Provinz- und Distriktebene arbeiten, aber nicht auf der Gemeindebene. Nur in der Parteiorganisation kann man das Kopftuch tragen, auch wenn manche Gemeinden und Distrikte es damit nicht so genau nehmen."
Laut einer kürzlich veröffentlichten TESEV-Studie geben 37,5 Prozent der türkischen Frauen an, keinerlei Kopfbedeckung zu tragen; die Hälfte der befragten Frauen trägt ein Kopftuch und zwölf Prozent tragen den Türban (nur ein Prozent trägt den den gesamten Köper verhüllenden Tschador).
In der Gesamtschau lässt sich eine Vielzahl von Aktivitäten erkennen. Doch wenn man von der abgeschlagenen Ausgangsposition der Türkei ausgeht, und wenn das Land Algerien (97. Platz) einholen, oder mit dem in der EU am schlechtesten abschneidenden Zypern (83. Platz) gleichziehen soll, dann liegt in der Anhebung der Zahl von Frauen in Führungspositionen der vielversprechendste Weg. Ein Teil der Lösung ist das Regierungshandeln selbst – verbesserter Zugang zu Bildung, bessere Kinderbetreuungseinrichtungen und ähnliches. Doch Gleichberechtigung ist auch das Ergebnis wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Kräfte – sinkendes Bevölkerungswachstum, zunehmende Urbanisierung und vor allem hohe wirtschaftliche Wachstumsraten und die damit einhergehende Nachfrage nach Arbeitskräften. Es bleibt abzuwarten, ob die Türkei die positive Dynamik der vergangenen Jahre beibehalten und den schon von vielen anderen europäischen Staaten beschrittenen Pfad einschlagen kann.
Viele in Europa glauben, der niedrige Status türkischer Frauen sei Ausdruck einer fremden Kultur, die in der Europäischen Union keinerlei Platz habe. Doch vor nicht allzu langer Zeit war das Patriarchat ebenfalls fester Bestandteil der europäischen Kultur. Wen heute die niedrige Zahl weiblicher Abgeordneter im türkischen Parlament schockiert, sollte sich daran erinnern, dass der Anteil weiblicher Abgeordneter im britischen Unterhaus erst 1987 die fünf Prozent Marke überschritt. In Irland war es verheirateten Frauen bis 1973 verboten, im öffentlichen Dienst zu arbeiten. In Spanien benötigte eine Frau bis 1975 die Erlaubnis ihres Ehemanns (permiso marital), um zu arbeiten, Eigentum zu erwerben oder zu reisen. Doch keiner dieser Werte war in Stein gemeißelt.
Unter allen europäischen Ländern hat Spanien die größten Fortschritte in der Gleichberechtigung gemacht. Unter Francos bis 1975 dauernder Herrschaft war es der katholischen Kirche möglich, der spanischen Gesellschaft moralische Wertvorstellungen aufzuerlegen, die den Frauen zur Verfügung stehenden Raum empfindlich einschränkten: "Frauen konnten nach Ehe und Mutterschaft aber wenig mehr streben". Scheidungen und Empfängnisverhütung waren gesetzeswidrig. In der Ehe, im Eigentumsrecht und am Arbeitsplatz war die Diskriminierung institutionalisiert. Frauen waren rechtlich zum Gehorsam gegenüber ihrem Mann verpflichtet. Häusliche Gewalt war weit verbreitet, wurde aber von einer Kultur verborgen, die jegliche Einmischung in Familienangelegenheiten zurückwies. Über Jahrhunderte waren spanische Frauen
"Gefangene einer Moralvorstellung, deren Kern in einer eigentümlichen Moralvorstellung von Ehre bestand… als ein objektives, fast schon dingliches Gut, das ein Mann verlieren konnte. Nicht nur durch sein eigenes, sondern auch durch das Handeln anderer, ganz besonders das seiner weiblichen Verwandten."
Nur eine Generation später scheint Spanien einer anderen moralischen Welt anzugehören. In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben spanische Frauen den verlorenen Boden mit atemberaubender Geschwindigkeit gutgemacht und strömten in den Bildungssektor und auf den Arbeitsmarkt. Heute sind mehr als 40 Prozent der Richter und Ärzte, mehr als 65 Prozent der Lehrer und mehr als 50 Prozent der Regierungsminister Spaniens Frauen.
Gibt es irgendeinen Grund, warum die Türkei nicht in die Fußstapfen Spaniens, Irlands und anderer europäischer Länder treten und zu einer wirklichen post-patriarchalen Gesellschaft werden sollte? Es ist offensichtlich, dass die derzeit stattfindenden weitreichenden sozioökonomischen Veränderungen die Grundlagen für eine radikale Änderung des Status' von Frauen geschaffen haben und es lassen sich bereits Hinweise auf einen tiefgreifenden Wertewandel finden. 1997 kam eine landesweite Studie zu dem Ergebnis, dass 69 Prozent aller Ehen in der Türkei arrangiert wurden. 2004 war dieser Anteil auf 54 Prozent gefallen. Unter den jungen unverheirateten Türken befürworten heute nur zehn Prozent arrangierte Ehen.
Eine kürzlich herausgegebene Studie von TESEV weist auf einen weiteren interessanten Widerspruch hin. Einerseits wenden sich Türken im privaten Bereich zunehmend der Religion zu, so nahm zwischen 1999 und 2006 die Zahl der Menschen, die von sich selbst sagen, sie seien 'sehr' oder 'ziemlich' religiös von 31 auf 61 Prozent zu. Andererseits nahm die Unterstützung für den säkularen Staat zu. Der Anteil der das islamische Recht (Scharia) befürwortenden Menschen sank seit 1999 von 21 auf neun Prozent. Auch wenn die gegenwärtige politische Debatte den Eindruck vermittelt, das Kopftuch breite sich immer weiter aus, hat tatsächlich zwischen 1999 und 2006 die Zahl unverschleiert in der Öffentlichkeit auftretenden Frauen von 27 auf 37 Prozent zugenommen.
Angesichts der gesellschaftlichen Veränderungen mutet die derzeitige politische Debatte in der Türkei erstaunlich realitätsfremd an. Eine lautstarke Minderheit, einschließlich einiger 'autoritärer Feministinnen', sieht die säkulare Tradition des Landes in Gefahr und ruft nach einem Eingreifen des Militärs. Ihre immense Furcht vor dem politischen Islam macht sie blind für die Veränderungen der türkischen Gesellschaft und die Errungenschaften der vergangenen Jahre. Die Türkei bemüht sich weiterhin, mehr Gleichberechtigung im wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Leben herzustellen, doch die wichtigste Lektion der vergangenen Jahrzehnte ist einfach: jeglicher substantielle Fortschritt hängt zuallererst von der Güte und der Offenheit der türkischen Demokratie ab.