Die Ukraine, Europa und ein zweiter Vertrag von Rom

Präsident Selenskyjs Rede vor dem Europäischen Parlament – März 2022
5/2022
16 June 2022

Liebe Freunde,

dies ist ein historischer Moment für das europäische Projekt.

Am 17. Juni wird die Europäische Kommission voraussichtlich vorschlagen, der Ukraine und Moldawien den Kandidatenstatus zu verleihen. Am 23. Juni kommen die Staats- und Regierungschefs der EU und des Westbalkans zusammen. Am 23. und 24. Juni tagt schließlich der Europäische Rat. Bei all diesen Gipfeln stellt sich vor allem die Frage, wie die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und den Demokratien in Mitteleuropa und auf dem Balkan vor dem Hintergrund der russischen Aggression und zunehmend finsterer Drohungen aus Moskau neugestaltet werden können.

 

Kann die Europäische Union die Ukraine aufnehmen?

Der russische Überfall auf die Ukraine hat Finnland und Schweden dazu veranlasst, Nato-Beitrittsanträge zu stellen. Zudem führte er dazu, dass die Ukraine, Moldawien und Georgien EU-Beitrittsanträge stellten. Auch Kosovo kündigte kürzlich als letzter Westbalkanstaat einen baldigen Antrag an.

Diese Entwicklungen machen eine Europäische Union mit 36 oder mehr Mitgliedstaaten wahrscheinlicher. Wie werden die EU-Staats- und Regierungschefs auf diese Beitrittsbestrebungen reagieren? Einige Länder, angeführt von Polen und den baltischen Staaten, fordern die EU seit Beginn der russischen Invasion auf, den ukrainischen Antrag zu unterstützen. Sie warnen, dass eine Ablehnung des Kandidatenstatus' der Ukraine ein verheerendes Zeichen für die Ukraine und eine gefährliche Botschaft an Putin wäre, der vorgibt, es sei seine Bestimmung, die Ukraine in den russischen Einflussbereich "zurückzuholen".

Eine zweite Gruppe betont, eine positive Antwort an die Ukraine dürfe die früheren Bewerber aus dem Westbalkan nicht hintanstellen. Denn diese Länder warten seit Jahren auf den Kandidatenstatus (Bosnien und Herzegowina) oder die Aufnahme von Beitrittsgesprächen (Albanien, Nordmazedonien). Sie stellen die Frage, warum die Ukraine bevorzugt werden sollte und was dann aus ihnen wird.

Eine dritte Gruppe von Mitgliedstaaten mahnt zur Vorsicht. Sie befürchtet, die EU sei beliebter als ihr guttue. Sie warnt, die EU werde durch eine abermalige Erweiterung an Funktionsfähigkeit einbüßen. Und sie schlägt vor, der Ukraine solle eine vage, an Bedingungen geknüpfte Perspektive geboten werden, wie auch anderen Bewerbern der letzten Jahre.

Angesichts der beschriebenen Spaltung der EU könnte für die Ukraine und die EU nicht mehr auf dem Spiel stehen. Um der Herausforderung durch den ukrainischen Antrag gerecht zu werden, ist eine strategische Vision für die Zukunft Europas nötig. Dazu gehört auch die Wiederherstellung der Glaubwürdigkeit des derzeitigen Beitrittsprozesses.

Denn selbst wenn der Ukraine der Kandidatenstatus zuerkannt und Bedingungen für eine ferne Aufnahme von Beitrittsgesprächen gestellt würden, wäre das nicht ausreichend. Damit würde sich die Vorgehensweise der EU gegenüber Nordmazedonien wiederholen, das 2005 Kandidat wurde und dessen Bestrebungen anschließend 17 Jahre lang bis heute behindert wurden. Infolgedessen verschlechterten sich seit dem Kandidatenstatus die Beziehungen zwischen der EU und Nordmazedonien. Selbst die Aufnahme von Beitrittsgesprächen wäre kaum zielführend, wenn dies dem Beitrittsprozess der Türkei (Verhandlungen seit 2005), Montenegros (Verhandlungen seit 2012) oder Serbiens (Verhandlungen seit 2014) gleichkäme. Denn keines dieser Länder scheint heute der EU-Mitgliedschaft näher zu sein als zu Beginn.

ESI wirbt seit Wochen wiederholt für eine Lösung, die den Bedenken aller Mitgliedstaaten gerecht wird. Sie besteht darin, den Kandidatenstatus zu gewähren und zeitgleich Beitrittsgespräche aufzunehmen und darüber hinaus Folgendes anzubieten:

Alle Beitrittskandidaten, welche die EU-Beitritts-Kriterien, einschließlich der Achtung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit, erfüllen, sollten vollen Zugang zu den vier Freiheiten (freier Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr) und zum europäischen Binnenmarkt erhalten. Ihre Bürger und Unternehmen hätten dann die gleichen Rechte wie jene aus EU-Mitgliedern oder Norwegen und Island heute.

Dieses Angebot sollte der Ukraine, Moldau und jeder interessierten Demokratie auf dem Balkan gemacht werden. So wird ein erreichbares Ziel formuliert. Litauen, Lettland und die Slowakei brauchten von 2000 bis 2002 insgesamt 34 Monate, um ihre Beitrittsgespräche aufzunehmen und abzuschließen. Polen, Slowenien und Zypern brauchten 56, Rumänien und Bulgarien 58 Monate. In nur wenigen Jahren könnte die Ukraine Mitglied des Binnenmarktes sein und von den vier Freiheiten profitieren.

Can Ukraine join the EU? A moment of decision

Kann die Ukraine der Europäischen Union beitreten? (Englisch)
30. Mai 2022

Ein realistischer Vorschlag – wie der Westbalkan der EU beitreten kann (Englisch)
9. Mai 2022

 Krieg und Frieden in Europa – fatale Lehren der letzten Jahrzehnte (Englisch)
11. April 2022

Die Aufnahme von Ländern in den Europäischen Binnenmarkt, sobald sie die Kriterien für die Mitgliedschaft, einschließlich rechtsstaatlicher, erfüllen, erschwert nicht die Entscheidungsfindung der EU. Ebenso wenig erfordert die Aufnahme in den Binnenmarkt eine interne EU-Reform. Und sie birgt auch nicht die Gefahr einer Dysfunktionalität der EU.

Das Mittel zur Erreichung dieser Ziele gibt es bereits: das Instrument für Heranführungshilfe. Jedes Jahr veröffentlicht die Europäische Kommission einen Bericht, wie weit jeder einzelne Beitrittskandidat des Westbalkans EU-Standards und Anforderungen für den Binnenmarkt erfüllt – von der Umwelt- bis zur Wettbewerbspolitik, bis hin zur Rechtsstaatlichkeit. Die Kommission sollte dies nun auch für die Ukraine und Moldawien tun.

Sobald die Kommission jedoch bestätigt, dass ein Kandidat diese Bedingungen erfüllt, sollte der Rat den uneingeschränkten Zugang zum Binnenmarkt und zu den vier Freiheiten anbieten und einen Vertrag aushandeln, der dem bereits bestehenden Vertrag über die Transportgemeinschaft zwischen der EU und den westlichen Balkanstaaten ähnelt: eine Europäische Wirtschaftsgemeinschaft II (EWG), die sich auf die vier Freiheiten als Rahmen stützt.

Winston Churchill. Photo: flickr / Levan Ramishvili Ursula von der Leyen and Volodimir Zelensky. Photo: flickr / Just Click's With A Camera

 

Die römische Vision – wie Integration funktioniert

Winston Churchill besuchte im September 1946 Zürich und sprach "über die Tragödie Europas." Während in Griechenland ein Bürgerkrieg tobte und stalinistische Unterdrückung in Mitteleuropa Fuß fasste, hielt Churchill an der Vision einer anderen Zukunft fest:

"Und doch gibt es …ein Mittel, das … wie durch ein Wunder die ganze Szene veränderte und in wenigen Jahren ganz Europa, oder doch dessen größten Teil, so frei und glücklich machte, wie es die Schweiz heute ist. Welches ist dieses vorzügliche Heilmittel? Es ist die Neuschöpfung der europäischen Völkerfamilie, oder doch so viel davon, wie möglich ist, indem wir ihr eine Struktur geben, in welcher sie in Frieden, in Sicherheit und in Freiheit bestehen kann."

Im April 2022 erinnerte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Kiew an Churchill:

"wir sind mit euch, wenn ihr von Europa träumt. Lieber Volodymyr, meine Botschaft heute ist klar: Die Ukraine gehört zur europäischen Familie. Wir haben eure Bitte laut und deutlich vernommen. Und heute sind wir hier, um euch eine erste, positive Antwort zu geben."

Churchill – 1946 Oppositionspolitiker – hatte eine Vision, die vielen wie ein Traum vorkam. Von der Leyen hingegen, an der Spitze der EU-Exekutive, kann weit mehr anbieten als einen Traum: ein konkretes Verfahren zur Aufnahme in eine bereits bestehende Struktur, in der Europa "in Frieden, in Sicherheit und in Freiheit bestehen kann".

Das Geheimnis hinter der europäischen Integration ist es, kühne Visionen in konkrete technische Schritte umzusetzen. Es waren Realisten, Politiker wie Robert Schuman und Konrad Adenauer, die, inspiriert von Strategen wie Jean Monnet, erhabene Worte über die europäische Familie in solide Institutionen verwandelten.

Rome Treaties. Photo: Wikimedia Commons / Рома
Rom – Geburtsstätte der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft

Im März 1957 trafen sich die Staats- und Regierungschefs sechs westeuropäischer Länder, um die Römischen Verträge zu unterzeichnen, die ihren Kontinent verändern sollten. Dabei verkündeten sie ihre Entschlossenheit,

"durch gemeinsames Handeln den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt ihrer Länder zu sichern, indem sie die Europa trennenden Schranken beseitigen."

Ihr Ziel war politisch. Die Mittel waren wirtschaftlich. Ihre Absicht war es, durch die Schaffung einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) die Barrieren, die Europa trennen, zu beseitigen.

In Deutschland waren die Pläne umstritten. Obwohl Bundeskanzler Konrad Adenauer für das Projekt der europäischen Integration die Unterstützung der sozialdemokratischen Opposition erhielt, stellten sich einige führende CDU-Minister in seiner Regierung gegen seine Pläne. Es bedurfte einer starken Führung des Kanzlers, um sein gesamtes Kabinett dazu zu bringen, sein Projekt zu unterstützen.

Auch diese Verhandlungen fanden in Kriegszeiten statt. Während der Vertrag von Rom verhandelt wurde, tobte im damals zu Frankreich gehörenden Algerien die brutale Schlacht von Algier, in der Gefangene gefoltert und kurzerhand hingerichtet wurden.

Commandos de Chasse of the 4th Zouave regiment. Photo: Wikimedia Commons / Unknown photographer
Krieg in Französisch-Algerien, 1954-1962

Die EWG wurde nicht nur gegründet, sondern überlebte das französische Weltreich und die Vierte Französische Republik, die ein Jahr später zusammenbrach. Sie überlebte außerdem die Diktaturen Francos und Salazars in Spanien und Portugal, den Warschauer Pakt und die Sowjetunion. Die EWG wurde zu einem Magneten für andere Demokratien, die sich dieser einzigartigen Organisation anschließen wollten.

Nathalie Tocci. Photo: Istituto Affari internazionali
Nathalie Tocci zum Kandidatenstatus für die Ukraine und Moldawien

Die EWG war erfolgreich, denn sie konzentrierte sich auf die Beseitigung von Barrieren und die Vertiefung der wirtschaftlichen Integration. Wie die Politikwissenschaftlerin Nathalie Tocci kürzlich in Wien sagte, war die europäische Integration von Anfang an ein "politisches Projekt im technischen Gewand".

 

Der dunkle Kontinent, bis heute

1990 trafen sich alle europäischen Staaten, die USA, Kanada und die Sowjetunion in Paris, um eine neue Ära des demokratischen Friedens zu feiern:

"Europa befreit sich vom Erbe der Vergangenheit…bricht in Europa ein neues Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit an… unerschütterliches Bekenntnis zu einer auf Menschenrechten und Grundfreiheiten beruhenden Demokratie, Wohlstand durch wirtschaftliche Freiheit und soziale Gerechtigkeit und gleiche Sicherheit für alle unsere Länder."                          Charta von Paris, 1990

Heute gleicht Westeuropa dem Europa des Friedens, wie es die Charta von Paris vorsah: eine Region, in der bewaffnete Konflikte undenkbar geworden sind. Niemand in Den Haag erstellt Krisenpläne für eine mögliche Invasion Frankreichs oder Deutschlands; niemand in Bukarest und Vilnius denkt an bewaffnete Konflikte mit Ungarn oder Polen.

Gleichzeitig blieb ein Großteil Europas nach dem Kalten Krieg nach wie vor ein Kontinent des Krieges.

In den drei Jahrzehnten seit 1990 gab es in Europa insgesamt 19 Kriege bzw. bewaffnete Konflikte. Nur einer fand im alten Westen statt: der Nordirlandkonflikt, der 1998 mit dem Karfreitagsabkommen in Belfast endete. Alle anderen Konflikte wurden im Osten und Südosten des Kontinents ausgetragen und beeinträchtigten dort die Entwicklung. Viele sind bis heute ungelöst.

Stuttgart, Mai 2022:
Krieg und Frieden in Europa nach 1990

Armed conflicts from 1990 to 1999. Map: ESI
Ein Bild, das Toilettenartikel, kosmetisch enthält.

Automatisch generierte Beschreibung  Bewaffnete Konflikte von 1990 bis 1999
Chart

Description automatically generated with medium confidence Bewaffnete Konflikte seit 2000

Slowenien, 1991
Kroatien, 1991-1995 (mit zwischenzeitlichem Waffenstillstand)
Bosnien und Herzegowina, 1992-1995
Kosovo, 1998-1999
Serbien, 1999
Nord-Mazedonien, 2001
Türkei-PKK, 1990er
Türkei-PKK, seit 2015

Südossetien, 1991-1992
Transnistrien, 1992
Abchasien, 1992-1993
Armenien-Aserbaidschan, 1992-1994
Tschetschenienkrieg, 1994-1996
Tschetschenienkrieg, 1999-2000
Russland-Georgien, 2008
Ostukraine, seit 2014
Armenien-Aserbaidschan, 2020
Russland-Ukraine, 2022

In einem Teil Europas wurden nationale Grenzen immer durchlässiger, schließlich fast unsichtbar. Die europäische Integration wurde zum weltweit erfolgreichsten Projekt zur Beseitigung von Barrieren zwischen Staaten. Selbst Demokratien, die sich entschieden, der EU nicht beizutreten, wurden angezogen: Island, Norwegen und die Schweiz wurden Teil von Schengen; Island und Norwegen auch Teil des Europäischen Binnenmarktes. Es war ein steter Prozess, ohne Zwang durch ein imperiales Zentrum. Es war eine Integration unter Gleichen, die sich um den größten Markt der Welt gebildet hat.

In anderen Teilen Europas hingegen wurde weiterhin bitter und blutig um Grenzen gekämpft. Aus diesem tragischen Gefängnis des Faustrechts wollen die Ukrainer sich befreien.

Doch dazu müssen sie zunächst die russische Aggression erfolgreich zurückschlagen. Darum ist für sie die Beschaffung von Waffen zur Verteidigung ihrer Heimat die oberste Priorität.

Ukraine’s application for EU membership. Photo: Office of the President of Ukraine

Gleichzeitig tun sie, was andere neue unabhängige Demokratien nach Ende des Kalten Krieges getan haben: Am 28. Februar 2022, vier Tage nach Beginn der russischen Invasion, unterzeichnete der ukrainische Präsident Selenskyj den offiziellen EU-Beitrittsantrag der Ukraine. Am 24. März wandte sich Selenskyj während des Treffens des Europäischen Rates an die EU-Staats- und Regierungschefs und bat alle Mitgliedstaaten, die Mitgliedschaft der Ukraine zu unterstützen.

Warum strebte die Ukraine den EU-Beitritt mitten im Krieg an, während die Hauptstadt noch belagert war? Warum füllten ukrainische Beamte Fragebögen mit tausenden Fragen der Europäischen Kommission aus, während in ihrem Land Kämpfe tobten? Um die Dringlichkeit zu verstehen, sollten wir uns noch einmal vor Augen führen, worum es in diesem Krieg geht.

 

Kolonien und Kolonisatoren

Im Krieg gegen Russland wird nicht nur die Ukraine gegen einen Aggressor verteidigt. Es geht dabei auch um den Kampf von radikal unterschiedlichen Visionen zur Zukunft Europas.

Eine Vision äußerte der russische Präsident Wladimir Putin letzte Woche, als er erklärte, alle Länder seien entweder souverän oder Kolonien:

"Um Führung zu beanspruchen, welcher Art auch immer – ich spreche nicht einmal von globaler Führung, sondern von Führung in einem beliebigen Gebiet – sollte jedes Land, jedes Volk, jede ethnische Gruppe ihre Souveränität sicherstellen. Denn es gibt kein Dazwischen, keinen Zwischenzustand: Entweder ist ein Land souverän, oder es ist eine Kolonie, egal wie die Kolonien genannt werden."

Vladimir Putin: "Either a country is sovereign, or it is a colony, no matter what the colonies are called"
Juni 2022

Souveräne Staaten können sich selbst verteidigen. Für Putin sind das Atommächte wie Russland, China, die USA und sogar, wie er billigend feststellte, Nordkorea.

Die Ukraine ist nicht souverän in diesem Sinne, so Putin. Die Ukraine hat keine andere Wahl, als Teil eines Imperiums zu sein. Es ist ihr Schicksal, erobert und kontrolliert zu werden, und die Frage ist nur, von wem: von Russland oder den USA. Jede Assoziierung der Ukraine mit der NATO oder der EU wird daher als Bedrohung angesehen, nicht weil sie zu einem Angriff auf eine nukleare Supermacht wie Russland führen könnte, sondern weil sie Russland daran hindern würde, die Kontrolle über seine ehemalige Kolonie wiederzuerlangen. So warnte Putin Wochen vor dem Krieg:

"Mein Eindruck ist, dass die Vereinigten Staaten gar nicht so sehr um die Sicherheit der Ukraine besorgt sind, ... sondern dass es ihnen vor allem darum geht, die Entwicklung Russlands einzudämmen. In diesem Sinne ist die Ukraine selbst nur ein Werkzeug, um dieses Ziel zu erreichen."

Kolonien sind dazu verdammt, Werkzeuge von Großmächten zu sein, so Putin. Die Ukraine und andere schwache europäische Staaten sollen Russlands Werkzeug sein, um seinen Ruhm wiederherzustellen.

Map of the Bloodlands. Photo: Twitter / @RutheniaRus Timothy Snyder: Bloodlands. Photo: Wikimedia Commons

Diese Sicht auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Europas wirft die dunkelsten Schatten auf die Ukraine und die Region zwischen Deutschland und Russland. Der Historiker Timothy Snyder bezeichnet sie als "Bloodlands", die Region, in der die schlimmsten Verbrechen und Gräueltaten des 20. Jahrhunderts stattfanden.

Timothy Snyder: The Nation-State and Europe, 1918 and 2018. Screenshot: YouTube / IIR Prague
Timothy Snyder in Prague, 2018

2018 erinnerte Snyder bei einer Rede in Prag daran, dass es in dieser Region keine freudvolle Geschichte von Nationalstaaten gegeben habe, sondern die tragische Geschichte von Fremdherrschaft und brutaler Gewalt. Nach dem Zusammenbruch der alten Großreiche der Habsburger, Hohenzollern und Romanows im Jahr 1918 entstanden in Mitteleuropa zwar neue unabhängige Staaten. Allerdings blieben diese nur kurze Zeit unabhängig: einige Monate im Fall der Ukraine, Armeniens oder Georgiens, die von den Bolschewiken zurückerobert wurden. Einige Jahrzehnte im Fall Polens, der Tschechoslowakei und der baltischen Staaten, die von den Armeen Hitlers oder Stalins besetzt wurden. Snyder drückte es so aus:

"Ist es nicht interessant, dass jeder einzelne seit den Pariser Vorortverträgen von 1919 geschaffene neue Nationalstaat innerhalb von zwei Jahrzehnten wieder aufhört zu existieren? Ist das ein Zufall? ... Nicht nur, dass all die neuen Staaten, die nach 1918 gegründet wurden, scheitern, sondern das gesamte Gebiet Osteuropas, das durch diese Verträge geregelt wurde, fällt dann – mit Ausnahme von Österreich – unter sowjetische Herrschaft. Ich würde sagen, das ist kein Zeichen für den Erfolg von Nationalstaaten, sondern eher für die Fortsetzung imperialer Herrschaft, nur in anderer Form."

Das offizielle Russland unter Putin preist schon lange in Filmen, Museen und Geschichtslehrbüchern die außenpolitischen Erfolge Joseph Stalins, der das Reich im 20. Jahrhundert ausbaute. Das Narrativ der imperialen Rückeroberung inspirierte Putin vor Kurzem, sich mit Zar Peter I. zu vergleichen.

In Putins Augen gibt es für Russlands Nachbarn nur eine Option: die "Rückkehr" in die Rolle von Vasallenstaaten. Im besten Fall enden sie wie das heutige Armenien. Haben sie weniger Glück, ähneln sie Belarus unter Lukaschenko. Widersetzen sie sich imperialer Kontrolle, erleiden ihre Städte das Schicksal von Grosny oder Mariupol.

Vladimir Putin and Czar Peter. Photo: kremlin.ru
Putin und Peter

Putins Ansichten sind erschreckend und erinnern an die dunkelsten Zeiten des 20. Jahrhunderts in Europa. Gleichzeitig ist dieser Widerwillen gegen das Loslassen von Kolonien, Abhängigkeiten und Vasallen nichts typisch Russisches.

Viele europäische Demokratien führten nach dem Zweiten Weltkrieg erbitterte Kriege, um die Kontrolle über ihre asiatischen Kolonien zu behalten: die Briten in Malaysia, die Niederländer in Indonesien, die Franzosen in Indochina. Sie kämpften in "Spezialoperationen" in Afrika, von Algerien bis Kenia. Selbst in Europa bekämpften sie antikoloniale Bestrebungen, wie im Fall des britisch kontrollierten Zypern. Vom Vereinigten Königreich bis Frankreich, von Spanien bis Portugal nahmen die Kolonialmächte den Verlust ihrer Kolonien nicht einfach hin. Am Ende mussten sie akzeptieren, dass sich der Kolonialismus überlebt hatte. Dafür zahlten sie einen hohen Preis, doch einen viel Höheren zahlten Vietnamesen und Algerier, Kenianer und Angolaner. Es waren die Niederlagen auf dem Schlachtfeld – oder Pyrrhussiege –, die die europäischen Nachkriegsdemokratien von gefährlichen Illusionen befreiten. Illusionen, die die politische Kultur im heutigen Russland bis heute prägen.

Euromaidan 2014. Photo: Twitter / @andrewsweiss
Der Blick nach Westen – die Revolution der Würde 2014

 

Kandidatenstatus und mehr – für die Ukraine und andere

Es gibt keine guten Gründe, der Ukraine im Juni den Kandidatenstatus nicht zu gewähren. Die Staats- und Regierungschefs der EU haben der Türkei 1999 den Kandidatenstatus zuerkannt, als dort noch die Todesstrafe herrschte. Nordmazedonien wurde er 2005 zuerkannt. In beiden Fällen führte der Kandidatenstatus nicht zum beschleunigten Beitritt.

Gleichzeitig stellt die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit vielen weiteren Ländern die EU vor große Fragen. Wie gut ist sie auf eine weitere Erweiterungsrunde vorbereitet, auf eine Europäische Union mit 35 oder mehr Mitgliedern? Derzeit lautet die ehrliche Antwort gewiss in Paris und Den Haag, Berlin und Kopenhagen: überhaupt nicht.

Dies ist keine Frage, die die EU in den nächsten Tagen beantworten wird, auch wenn die Debatte darüber über kurz oder lang beginnen muss. Als Reaktion auf die Anträge der Ukraine und Moldaus kann sie jedoch schon heute den derzeitigen dysfunktionalen Beitrittsprozess überdenken.

Falls 2022 neue Beitrittsgespräche aufgenommen werden, sollte dies mit Verhandlungen einhergehen, die auch zu einer Europäischen (Wirtschafts-)Gemeinschaft führen, die allen europäischen Demokratien, einschließlich des Westbalkans, offensteht. Erforderlich ist ein wirksames Instrument, um in der Tradition von Schuman und Monnet die "Beseitigung der Barrieren, die Europa trennen", zu beschleunigen.

Dies wäre visionär und vertraut, da etwas Ähnliches hat es schon einmal gegeben. Auf diese Weise traten Finnland, Schweden und Österreich 1994 zunächst dem Binnenmarkt und 1995 der EU bei. Es war die Vision des legendären Kommissionspräsidenten Jacques Delors. In seiner Antrittsrede vor dem Europäischen Parlament im Januar 1989 stellte Delors die Frage, wie man "die erfolgreiche Integration der Zwölf in Einklang bringen kann, ohne diejenigen zurückzuweisen, die sich mit gleichem Recht Europäer nennen dürfen." Delors bezog sich auf Österreich, Schweden, Norwegen und Finnland und bot ihnen eine "strukturiertere Partnerschaft mit gemeinsamen Entscheidungs- und Verwaltungsorganen" an.

Drei Jahre später, am 2. Mai 1992, unterzeichneten Österreich, Finnland, Island, Norwegen und Schweden das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR). Sie wurden am 1. Januar 1994 Mitglieder des Binnenmarktes.

Dieser zweistufige Prozess war kein Umweg. Er machte die EU-Mitgliedschaft wahrscheinlicher. So sagte Veli Sundbäck, der frühere Chefunterhändler Finnlands: "Für uns in Finnland hat der EWR unsere Beitrittsverhandlungen sehr erleichtert." Anders Olander, ein ehemaliger schwedischer Verhandlungsführer, drückte es so aus:

"Für mein Land war der EWR ein Sprungbrett in Richtung EU-Vollmitgliedschaft. Ohne das EWR-Abkommen und den Prozess, der ihm vorausging – die beste europäische Integrationsschule, die ich mir vorstellen kann – wären wir nicht in der Lage gewesen, unsere Beitrittsverhandlungen so einfach und schnell abzuschließen, wie es der Fall war."

Europe and Russia. Cartoon:

 

Der Augenblick für politische Führung ist jetzt

Der gegenwärtige Moment erfordert die praktische Vorstellungskraft eines Jacques Delors. Wird Ursula von der Leyen etwas Ähnliches gelingen?

Der gegenwärtige Zeitpunkt erfordert den kühnen Realismus derjenigen, die die Gemeinschaft für Kohle und Stahl und die Römischen Verträge ausgehandelt haben. Kann Charles Michel der Paul-Henri Spaak, Emmanuel Macron der Robert Schuman und Olaf Scholz der Konrad Adenauer dieser Generation sein?

Der jetzige Augenblick erfordert eine Vision von Churchills Kühnheit, die allerdings in konkrete technische Schritte umgesetzt werden muss, ganz so wie Jean Monnet, der sich stets auf das konzentrierte, was Robert Schuman als "konkrete Errungenschaften" bezeichnete, "die erstmals eine de facto Solidarität schafften."

Natürlich ist die Ukraine im Jahr 2022 nicht das Schweden oder Österreich von 1994. Sie ist ein Land im Krieg auf einem Kontinent am Abgrund, am Beginn eines neuen Kalten Krieges. Aber das macht eine robuste Strategie für die künftige europäische Integration mehr dringlich, nicht weniger.

Der Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 hat deutlich gemacht, dass sich die Europäische Union darauf vorbereiten muss, ihre Mitglieder gegen die Bedrohung durch ein revanchistisches Russland zu verteidigen. Die europäischen Demokratien konnten in den vergangenen Jahrzehnten durch ihr Bündnis mit den großen Demokratien jenseits des Atlantiks, allen voran den USA, aber auch Kanada, ihre Sicherheit wahren.

Wenn sie sich jedoch eines Tages nicht mehr auf die USA verlassen können, um ihre Sicherheit zu gewährleisten, müssen sie in der Lage sein, ihr antiimperiales Projekt aus eigener Kraft zu verteidigen. Sie werden dann so viele Demokratien wie möglich auf ihrer Seite haben wollen. Eine demokratische Ukraine, die einem feindlich gesinnten Russland die Stirn geboten hat, wäre ein wertvoller Verbündeter.

Ein Verbündeter, keine Last: So sollten die europäischen Staats- und Regierungschefs in den kommenden Tagen über die Ukraine denken, wenn sie historische Entscheidungen treffen.  

Mit freundlichen Grüßen,


Gerald Knaus