Der Ausschluss Ozeaniens – Der Europarat und der russische Angriff

Putins Aggression
2/2022
9 March 2022

Liebe Freunde,

der Ausschluss Russlands aus dem Europarat kann nicht länger warten, die Mitgliedsstaaten müssen ihn diese Woche beschließen. Morgen wird das Ministerkomitee in Straßburg über Russland beraten.

Der Europarat darf keine Diktatur beherbergen, die einen Nachbarstaat überfällt, massive Kriegsverbrechen begeht und gleichzeitig die Menschenrechte ihrer eigenen Bürger missachtet, um ihren aggressiven Krieg vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Und doch sind einige Mitgliedstaaten Berichten zufolge kurz vor dieser historischen Abstimmung immer noch unentschlossen wie sie abstimmen sollen.

Angesichts der Entwicklungen der letzten zwei Wochen wäre es ein verheerendes Signal, der derzeitigen russischen Führung zu suggerieren,  unter den europäischen Demokratien bestünde irgendein Zweifel, dass Russland seinen Platz in ihrer Mitte verlassen hat. Russland nicht auszuschließen, würde sicherlich als Hinweis darauf verstanden werden, dass sich einige in Europa auf eine baldige Zeit freuen, zu der die derzeitigen Spannungen, wie sie in den letzten Jahren immer wieder aufgetreten sind, vergessen sein könnten.

Dieses Mal muss die Reaktion anders ausfallen.

 

Erster Schritt: Suspendierung

Am Montag, dem 21. Februar 2022, hielt der russische Präsident Wladimir Putin eine schockierende Rede. Er erklärte, die ukrainische Identität sei ein Hirngespinst. „Die moderne Ukraine wurde vollständig vom bolschewistischen Russland konstruiert.“ Er sei „bereit Ihnen zu zeigen, was eine echte Entkommunisierung für die Ukraine bedeutet.“ Putin drohte damit, die ukrainische Staatlichkeit mit Waffengewalt zu zerstören.

Am Mittwoch, dem 23. Februar, forderte ESI das Ministerkomitee auf, als Reaktion auf diese Drohungen die Mitgliedschaft Russlands im Europarat im Einklang mit dessen Statut auszusetzen. Wir argumentierten, dass Putin den in der Europäischen Menschenrechtskonvention verankerten Grundsätzen (schon vor langer Zeit) den Kampf angesagt hat:

Auf English
Suspend Russia! The Council of Europe and the new cold war

Auf Französisch:
Suspendez la Russie ! Le Conseil de l’Europe et la nouvelle guerre froide

Auf Spanisch:
¡Suspender a Rusia! El Consejo de Europa y la nueva guerra fría

In den frühen Morgenstunden des Donnerstags, 24. Februar, erklärte Russland der Ukraine den Krieg und begann seinen Angriff. Einen Tag später, am Freitag, dem 25. Februar, stimmten die 47 Mitgliedstaaten des Europarats für die Aussetzung der russischen Mitgliedschaft. Das Ergebnis der Abstimmung war eindeutig:

42 Staaten waren für die Aussetzung
  2 Staaten lehnten sie ab – Russland und Armenien
  1 Staat enthielt sich – Türkei
  2 Staaten waren abwesend – Serbien und Aserbaidschan

Die begleitende Pressemitteilung kündigte an:

„Im Einklang mit der Satzung des Europarates hat das Ministerkomitee heute beschlossen, die Russische Föderation aufgrund des bewaffneten Angriffs der Russischen Föderation auf die Ukraine mit sofortiger Wirkung von ihren Repräsentationsrechten im Ministerkomitee und in der Parlamentarischen Versammlung zu suspendieren.“

Die Erklärung fügte jedoch hinzu, dass diese „Aussetzung keine endgültige Maßnahme ist, sondern eine vorübergehende, die Kommunikationskanäle offenlässt.“ All dies geschah, bevor das Ausmaß des russischen Angriffskriegs deutlich wurde.

Für den Ausschluss Russlands ist eine Zweidrittelmehrheit der Stimmen der 47 Mitgliedstaaten erforderlich. Der Beschluss, den ein oder mehrere Mitgliedstaaten einbringen müssen, hat formal die Form eines Austrittsantrags. Lehnt Russland dies ab, kann das Ministerkomitee beschließen, seine Mitgliedschaft zu einem von ihm gewählten Zeitpunkt zu beenden.

Das Ministerkomitee hat sich verpflichtet, die Parlamentarische Versammlung zu konsultieren, bevor es einen Staat einlädt, dem Europarat beizutreten oder auffordert aus ihm auszutreten. Die Parlamentarische Versammlung hat bereits eine außerordentliche Sitzung für den 14. und 15. März einberufen, um „die Folgen der Aggression der Russischen Föderation gegen die Ukraine zu erörtern“.

Das Ministerkomitee sollte beschließen, die Versammlung auf dieser Sitzung formell zum Ausschluss Russlands zu konsultieren. Anschließend sollte es Russland unverzüglich auffordern, sich zurückzuziehen.

 

13 schreckliche Tage

Volodymyr Zelensky addressing the joint Houses of Parliament in London. Photo: House of Commons / Screenshot
Volodymyr Zelenskys Rede vor dem britischen Parlament

Am Dienstag, den 8. März, sprach der ukrainische Präsident Wolodymyr Zelensky vor dem Parlament in London. Er fasste die Entwicklungen seit Beginn des Krieges gegen sein Land zusammen:

Zelenskys Rede im Unterhaus

„Ich möchte Ihnen von den 13 Tagen des Krieges erzählen, dem Krieg, den wir nicht begonnen und den wir nicht gewollt haben. Aber wir müssen diesen Krieg führen, wir wollen nicht verlieren was wir haben, was uns gehört, unser Land Ukraine. Genauso wie Sie einst Ihr Land nicht verlieren wollten, als die Nazis anfingen, Ihr Land zu bekämpfen und Sie für Großbritannien kämpfen mussten.

Dreizehn Tage dauert dieser Kampf an, am ersten Tag wurden wir um vier Uhr morgens von Marschflugkörpern angegriffen. Alle wachten auf, Menschen mit Kindern, die ganze Ukraine, und seitdem haben wir nicht mehr geschlafen. Wir kämpfen alle für unser Land, mit unserer Armee.

Am zweiten Tag kämpften wir gegen Luftangriffe und unsere heldenhaften Militärs auf den Inseln versuchten es – als die russischen Streitkräfte uns aufforderten, die Waffen niederzulegen, kämpften wir trotzdem weiter und wir spürten die Kraft unseres Volkes, das sich den Besatzern bis zum Ende widersetzte. Am nächsten Tag begann der Artillerieangriff auf uns. Unsere Armee hat uns gezeigt, wer wir sind.

Am vierten Tag haben wir begonnen Menschen gefangen zu nehmen, wir haben sie nicht gefoltert, wir sind auch am vierten Tag dieses schrecklichen Krieges human geblieben.

Am fünften Tag ging der Terror gegen uns weiter, gegen Kinder, gegen Städte, und es gab ständigen Beschuss im ganzen Land, auch auf Krankenhäuser, aber das hat uns nicht gebrochen, sondern gab uns das Gefühl einer großen Wahrheit.

Am sechsten Tag fielen russische Raketen auf Babi Yar – den Ort, an dem die Nazis während des Zweiten Weltkriegs Tausende von Menschen ermordeten – und 80 Jahre später treffen die Russen sie dort ein zweites Mal, und sogar Kirchen werden durch Beschuss zerstört.

Am achten Tag haben wir gesehen wie russische Panzer das Atomkraftwerk beschossen haben, und jeder hat verstanden, dass dies Terror gegen alle ist.

Am neunten Tag fand ein Nato-Treffen statt, das nicht das gewünschte Ergebnis brachte. Ja, wir hatten das Gefühl, dass die Bündnisse leider nicht immer richtig funktionieren und die Flugverbotszone nicht durchgesetzt werden kann.

Am 10. Tag begannen die Ukrainer zu protestieren und die gepanzerten Fahrzeuge mit ihren bloßen Händen zu stoppen.

Am 11. Tag wurden Kinder und Städte sowie Krankenhäuser durch Raketen und ständigen Beschuss getroffen, und an diesem Tag wurde uns klar, dass die Ukrainer zu Helden würden, ganze Städte, Kinder, Erwachsene.

Am 12. Tag überstiegen die Verluste der russischen Armee 10.000 Tote, darunter ein General, und das gab uns Hoffnung, dass diese Menschen in irgendeiner Form vor Gericht zur Verantwortung gezogen werden.

Am 13. Tag wurde in der Stadt Mariupol, die von den russischen Streitkräften angegriffen wurde, ein Kind getötet. Sie lassen keine Lebensmittel und kein Wasser durch und die Menschen geraten in Panik.

Ich denke, jeder kann hören, dass die Menschen kein Wasser haben. In den 13 Tagen dieses Zustands wurden über 50 Kinder getötet. Das sind Kinder, die hätten leben können, aber diese Leute haben sie uns weggenommen“.

Zelenskys Rede war die Zusammenfassung zweier schrecklicher Wochen für die Ukrainer. Diese Wochen sahen:

Human Rights Watch
“Ukraine: Mariupol Residents Trapped by Russian Assault”, 7. März

 

Russland als Ozeanien – Abstieg in die Finsternis

Russian police arrests 76-old World War II survivor for protesting the Ukraine war. Photo: Twitter / Charles Lister
Russland heute: Verhaftung einer Überlebenden des Zweiten Weltkriegs,
die gegen Putins Krieg protestiert

Gleichzeitig verschwanden die letzten Überbleibsel unabhängiger Medien und der Versammlungsfreiheit in Russland. Die New York Times stellte fest:

„Während Putin Krieg gegen die Ukraine führte, wurde eine digitale Barriere zwischen Russland und der Welt errichtet. Sowohl die russischen Behörden als auch multinationale Internetkonzerne bauten diese Mauer mit atemberaubender Geschwindigkeit. Diese Maßnahmen haben das offene Internet zerstört, das einst dazu beitrug, Russland in die Weltgemeinschaft zu integrieren.

... Facebook wurde blockiert. Twitter wurde teilweise blockiert, und die Zukunft von YouTube ist ungewiss. Apple, Samsung, Microsoft, Oracle, Cisco und andere haben sich aus Russland zurückgezogen oder ganz aufgegeben ...

Die Maßnahmen haben Russland in einen digital abgeschotteten Staat verwandelt, ähnlich wie China und der Iran, die das Internet streng kontrollieren und ausländische Websites und abweichende Meinungen zensieren. Chinas Internet und das westliche Internet sind im Laufe der Jahre fast vollständig voneinander getrennt worden, mit wenigen sich überschneidenden Diensten und wenig direkter Kommunikation. Im Iran haben die Behörden während der Proteste Internetsperren verhängt.“

Damit einher gingen drakonische Strafen für jegliche Kritik an der Kriegsführung Putins. Am 4. März kriminalisierte der russische Gesetzgeber die Verbreitung von „Falschnachrichten“ über die Armee. Die Strafe dafür wurde auf bis zu 15 Jahre Gefängnis erhöht.

In den letzten Wochen gab es in ganz Russland Tausende von Verhaftungen:

„Die Polizei meldete mehr als 3.000 Festnahmen im ganzen Land – die höchste offiziell gemeldete Zahl an einem einzigen Protesttag in der jüngeren Geschichte. Eine Aktivistengruppe, die Verhaftungen verfolgt, OVD-Info, meldete Festnahmen in 49 verschiedenen russischen Städten.“

Leider sind keine dieser Repressalien überraschend. Die Verfolgung der angesehenen Menschenrechts-Organisation Memorial und jeglicher politischer Opposition hat schon lange vor dem Einmarsch in die Ukraine zugenommen.

Memorial – Speaking truth to power. Photo: Council of Europe
Memorial – Die Wahrheit ans Licht bringen

Im Dezember 2021 stimmten die Gerichte der Staatsanwaltschaft zu, dass sowohl Memorial International als auch sein Menschenrechtszentrum als „ausländische Agenten“ liquidiert werden sollten. Die russische Staatsanwaltschaft hatte sie wie folgt angeklagt:

„Die Aktivitäten von Memorial zielen in der Tat weitgehend darauf ab, die Geschichte unseres Landes zu verfälschen und das Massenbewusstsein der Bevölkerung schrittweise von der Erinnerung an die Sieger auf die Notwendigkeit der Reue für die sowjetische Vergangenheit umzuformen.“

In einem Bericht wurden die revisionistischen Äußerungen der Staatsanwaltschaft zitiert:

„Es ist offensichtlich, dass Memorial aus dem Thema der politischen Repressionen im zwanzigsten Jahrhundert Kapital geschlagen und ein [absichtlich] falsches Bild der Sowjetunion als terroristischem Staat geschaffen hat ... Warum sollten wir uns für unsere angeblich hoffnungslose Vergangenheit schämen und sie bereuen, anstatt stolz auf ein Land zu sein, das einen schrecklichen Krieg gewonnen und die Welt vom Faschismus befreit hat?”

Im Nachhinein ist es leicht, dies als Teil der breiteren ideologischen Mobilisierung zu sehen, die Putins Eroberungskrieg begleitet. Versammlungsfreiheit, Informationsfreiheit, Redefreiheit: Es gibt heute keinen nennenswerten Unterschied mehr zwischen Russland und der Sowjetunion oder dem heutigen China und Iran. Russland verwandelt sich in eine totalitäre Diktatur aus der Zeit vor der Perestroika und vor Gorbatschow Anfang der 1980er Jahre zurück.

War is Peace
Freedom is Slavery
Ignorance is Strength
Die Welt von George Orwells 1984:
Krieg ist Frieden
Freiheit ist Sklaverei
Unwissenheit ist Stärke

Tatsächlich ist Putins Russland immer weniger von George Orwells Ozeanien zu unterscheiden: ein Staat der Folter und Unterdrückung, der sich im ständigen Krieg mit anderen Mächten befindet, um sich selbst zu legitimieren, und von einer Partei regiert wird, die eine Gedankenpolizei einsetzt, um unabhängiges Denken zu verfolgen – alles im Namen ihres diktatorischen Führers. Kann Ozeanien Mitglied des Europarates bleiben und dieser gleichzeitig seine Glaubwürdigkeit bewahren?

 

Nächster Schritt: Ausschluss

Committee of ministers in Strasbourg. Photo: Council of Europe
Ministerkomitee in Straßburg

Nach der Suspendierung Russlands am 25. Februar erklärte Pjotr Tolstoi, der Leiter der russischen Delegation in der Parlamentarischen Versammlung, auf seinem Telegrammkanal, dass der Europarat ohne Russland unmöglich sei. Tolstoi deutete auch an, dass Russland bereit sei, Mitglied zu bleiben und darauf zu warten, dass der Europarat seine Entscheidung überdenkt:

„Die Wiederaufnahme unserer Gespräche wird nun vom Europarat abhängen. Wir Russen werden uns nicht ändern.“

Pyotr Tolstoy. Photo: Wikimedia Commons Marija Pejcinovic Buric. Photo: Council of Europe
Pjotr Tolstoi – Marija Pejcinovic Buric

Tolstoi wiederholte die Lügen, mit denen die russische Invasion der Ukraine gerechtfertigt wurde:

„Bis zum letzten Moment haben wir versucht, unsere Position zu vermitteln: Der Völkermord an den Russen in der Ukraine dauerte acht Jahre, Zivilisten starben im Donbass, Familien wurde Bildung und die Möglichkeit, Russisch zu sprechen, verwehrt.“

Am 4. März forderte Marija Pejcinovic Buric, die Generalsekretärin des Europarates, Russland dazu auf

„die Feindseligkeiten sofort und bedingungslos einzustellen und zur Diplomatie und zum Dialog zurückzukehren ... Sollte dies jedoch nicht der Fall sein, werden das Ministerkomitee und die Parlamentarische Versammlung Schritte zum Ausschluss vorbereiten.“

Am 8. März gaben die Staats- und Regierungschefs des Europarates eine gemeinsame Erklärung zu Russland ab. Sie forderten die Russische Föderation außerdem auf

 „ihre militärischen Operationen in der Ukraine sofort und bedingungslos einzustellen“.

„militärische Angriffe gegen Zivilisten und zivile Objekte zu unterlassen, die Sicherheit medizinischer Einrichtungen, des Personals und der Rettungsfahrzeuge zu gewährleisten, den ungehinderten Zugang der Zivilbevölkerung zu sicheren Evakuierungsrouten, medizinischer Versorgung, Nahrungsmitteln und anderen lebenswichtigen Gütern sicherzustellen sowie die rasche und ungehinderten Durchlass humanitärer Hilfe und die Mobilität der humanitären Helfer zu gewährleisten“.

„die Grundsätze und Werte der Demokratie, der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit, die unsere Organisation auf ihrem eigenen Boden vertritt, zu beachten“.

Die Erklärung schloss mit einer Warnung. Der Europarat werde „die Situation aufmerksam verfolgen und sich vorbehalten, weitere Maßnahmen zu ergreifen".

 

Die Mitgliedschaft Russlands ist nicht länger tragbar

Einige befürchten, dass ein Ausschluss Russlands aus dem Europarat russischen Bürgern den Schutz des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) verwehren würde.

Tatsächlich sind Bürger, die das Regime anfechten, schon heute ungeschützt. Es wäre absurd anzunehmen, dass die miserable Umsetzung der EGMR-Urteile unter den derzeitigen Bedingungen nicht noch schlechter ausfallen würde. Die anhaltende Inhaftierung von Alexey Navalny ist hierfür ein klarer Beleg.

Der Ausschluss des russischen Staates muss dazu führen, dass russische Menschenrechtsverteidiger mehr anstatt weniger Aufmerksamkeit erhalten. In Russland gab es schon Dissidenten bevor das Land dem Europarat beitrat.

Manche befürchten, dass ein Ausschluss Russlands einen endgültigen Bruch bedeuten würde. Das ist falsch. An dem Tag, an dem Russland wieder eine Demokratie wird, sollte es mit offenen Armen empfangen werden. So war es auch in Griechenland nach dem Sturz der Militärjunta.

Heute ist das leider eine ferne Vision. Heute muss Russland ausgeschlossen werden, damit es überhaupt einen glaubwürdigen Europarat geben kann, in den eines Tages ein anderes Russland zurückkehren könnte.

Mit freundlichen Grüßen,


Gerald Knaus